In der alpinen Literatur beschreiben Bergsteiger öfters, dass sie am Gipfel angekommen bereits wieder ein neues Ziel vor Augen haben. Mein Gipfel war die Erstbegehung der Route „Batajan“ an der Westwand des 2. Sellaturms. Als ich 2009 unterwegs war die Route fertig zu stellen bemerkte ich diesen Wandteil zum ersten Mal.
Es war ein besonders kalter und windiger Tag und deshalb entschlossen wir uns zuerst die „Zeni“ an der Südwand des Piz Ciavazes zu klettern und erst am Nachmittag wieder in die „Batajan“ einzusteigen. Während der Zeit am Standplatz schweiften meine Augen von der „Zeni“ weg, ich betrachtete die rechts gelegene, überhängende Wand und überlege mir, ob sie wohl kletterbar ist.
3 Jahre vergehen, die Gedanken bleiben
Am 20. November 2011 unterwegs in der „via Italia“ blicke ich immer wieder in den geglaubten, noch unbestiegenen Wandteil und entdecke Haken und Schlingen wo eigentlich keine sein sollten. Kletterführer werden durchstöbert, aber mehr als eine als Verhauer markierte Linie mit vielen Fragezeichen in einer Skizze aus dem Jahre 1999 ist nicht zu finden. Um herauszufinden ob es sich bei den ominösen Seillängen um einen Verhauer, Erstbegehungsversuch oder gar um eine nicht dokumentierte Route handelt, musste man die Seillängen klettern.
Ich erzähle Martin von den rätselhaften Haken und ein paar Tage drauf am 1. Dezember steigen wir über die erste Seillänge der Zeni in die unbekannte Linie ein. Normalhaken, Drahtbügel, alte Bohrhaken und Schlingen markieren den Weg. Als Martin in einer Nische zum Standplatz kommt, entdeckt er hinter einem Stein versteckt ein Dutzend alte Normalhaken. Erleichterung macht sich breit. Wir wissen nun, dass die andere Seilschaft nur bis hierher geklettert war und der restliche Wandteil unbestiegen ist.
Im Normalfall wäre auch für uns an dieser Stelle Schluss gewesen, da man eine bereits begonnene Erstbegehung nicht ohne das Einverständnis der Erschließer fortführt. In diesem Fall wurden die zwei Seillängen vor über 15 Jahren eröffnet und deshalb ist die Schonfrist unserer Ansicht nach vorbei.
Ich steige voraus. Die Seillänge ist erstaunlicherweise relativ einfach, in Anbetracht der Tatsache dass die Erschließer der unteren Seillängen hier nicht mehr weitergeklettert sind und die von ihnen eröffneten Längen doch um einiges schwieriger waren. Martin klettert anschließend noch eine weitere Seillänge und mit Einbruch der Dunkelheit seilen wir ab. Beflügelt durch die Gewissheit eine Erstbegehung machen zu können, starten wir am darauf folgenden Tag einen erneuten Anlauf.
Das Hochklettern bis zum Umkehrpunkt vom Vortrag will aber nicht so gelingen, wie wir es uns das auf der Fahrt zum Sellajoch ausgemalt hatten. Gezeichnet vom Vortag komme ich im überhängenden Wandteil nur sehr langsam weiter. Ein bewölkter Himmel und Temperaturen um den Gefrierpunkt zwingen uns schließlich zum Abbruch. Der Winter hat uns eingeholt.
Erst am 9. März 2012 versuchen wir es erneut und erreichen diesmal das ersehnte Gamsband des Piz Ciavazes. Aufgrund der hohen Schwierigkeit einzelner Passagen werden diese während der Erstbegehung technisch überwunden, aber vor allem Martin ist davon überzeugt, dass es auch frei kletterbar sein musste. Ich fange an eine erste Routenskizze zu zeichnen und beim Betrachten des Bildes fällt uns auf, dass es noch genügend Platz gibt der Route einen eigenen Einstieg zu schenken und nicht wie bisher über die „Zeni“ einzusteigen. Gesagt – Getan.
Die Einstiegseillänge ist bald geklettert und wir wollen die restliche Zeit nutzen, um die Kletterzüge der schweren Seillänge zu probieren. Martin ist unterwegs in der 6. Seillänge als er kurz vor dem Stand plötzlich zu mir runter schreit „A Oachkatzl (Ein Eichhörnchen)“! Ich schaue hoch und sehe wie es in der senkrechten Wand davon läuft. Wir fühlten uns etwas erbärmlich, deklassiert von einem Eichhörnchen welches mit Leichtigkeit durch die Wand läuft, wo wir nur schwerfällig mit kiloweise Material vorankommen. Eichhörnchen soll deshalb auch der Name der Route sein, auf ladinisch Schirata.
Wir probieren noch die Kletterzüge der Schlüssellänge und nun bin auch ich davon überzeugt, dass es zwar schwer sein wird aber durchaus machbar.
Am 31. März nehmen wir die Rotpunktbegehung in Angriff. Es sollte jeweils derjenige die Seillänge vorsteigen, welcher bislang noch nicht die Gelegenheit dazu hatte. Die schwerste Seillänge wollen wir beide versuchen. Angekommen am Stand unter der Schlüsselseillänge versucht Martin als Erster sein Glück. Ein paar anspornende Worte meinerseits, ein bedenklicher Blick nach oben, ein kontrollierender Blick auf meine Sicherung und Martin klettert los. Die wärmenden Sonnenstrahlen erreichen den Riss in der überhängenden Wand noch nicht und dennoch gelingt ihm die erste Hälfte der Seillänge problemlos. Er durchklettert die eingeprägte Griffabfolge bis zu einer Stelle, in der er versucht eine Rastposition zu finden. Seine Unterarme sind aufgeblasen und er spürt seine Finger nicht mehr. Ich versuche ihn zu motivieren, er schüttelt seine Arme um damit den Muskel wieder zu lockern. Entschlossen klettert er weiter und erreicht den Stand. Geschafft!
Zumindest einer hat damit schon mal die Seillänge durchklettert, denke ich mir, aber ich will es auf jeden Fall auch probieren. Ich lasse ihn wieder zu mir herunter, ein Schulterklopfen, ich ziehe das Seil ab und wir tauschen Position. Ohne größere Schwierigkeiten gelingen mir die einzelnen Klettersequenzen bis auch ich mit kalten Fingern und stahlharten Unterarmen zu kämpfen habe. Ich erreiche Martins Rastposition und versuche durch schütteln der Arme und reiben der Hände wieder etwas Gefühl in die Finger zu bekommen. Den Entschluss gefasst weiterzuklettern bis ich stürze, gehen ich die nächsten Kletterzüge an und erreiche glücklicherweise noch vor einem Sturz den rettenden Stand.
Ein Jubelschrei hallt aus der Wand! Keinen klaren Gedanken mehr im Kopf brauche ich einige Zeit die Sicherung einzurichten und Martin nachzusichern. Er klettert noch die letzte Seillänge zum Gamsband. Dort angekommen legen wir uns erleichtert ins Gras und sind überglücklich dass die Linie dermaßen schön zu klettern ist und eine Schlüssellänge besitzt, mit einer logischen Abfolge von durchwegs guten Griffen und dennoch durch ihre Steilheit schwer ist. Schirata, der Weg des Eichhörnchens.
Manuel Stuflesser