Tausend Gipfel ohne Seil und Haken: Zum 120. Geburtstag eines genialen Kletterers
Altaussee - In den Sextener Dolomiten sieht man vom Paternsattel schön zu den drei Zinnen. Die kleinste von ihnen trägt den Namen "Torre Preuß", ihre markanteste Stelle ist der "Preuß-Riss", nach dem Erstbesteiger der Nordostwand. Zahlreiche Kletterrouten in den Ostalpen erinnern an den schmächtigen blonden Ausnahmebergsteiger.
Am 19. August 1886 kommt Paul Preuß in Altaussee zur Welt. Die Eltern, Eduard Preuß, ein aus Ungarn stammender Musiklehrer, und die Elsässerin Caroline Lauchheim, hatten sich im Salzkammergut kennen gelernt. Im Winter lebt die Familie in Wien, die Sommermonate verbringt Paul mit seinen Eltern und seinen älteren Schwestern Sophie und Mina in Aussee. Dem sechsjährigen Buben setzt ein Kinderlähmungsvirus zu, Spaziergänge und Gymnastik bringen ihm Kraft und Geschicklichkeit zurück.
Mit elf beginnt er richtig bergzusteigen. Er erkundet die umliegenden Berge, meist allein, manchmal auch mit den Schwestern oder Spielkameraden. So legt er die Basis für sein späteres Können. Der bekannte Autor und Bergsteiger Kurt Maix wird später festhalten: "Die Berge machten ihn gesund. Er begann nicht als 'Kletterer'. Er stieg und kraxelte herum, wie es eben die Einheimischen tun. Er suchte Pflanzen und Kräuter - wie es die Einheimischen tun. Er lernte den wiegenden Gang, die Trittsicherheit auch auf den steilsten Rasenhängen - wie er es eben bei den Einheimischen gesehen hatte. Er lernte auch ihre Lieder, ihre Sprache, ihr Lachen."
Preuß beginnt erst 1910 ein genaues Bergtagebuch zu führen, seine früheren Touren sind nur durch Erzählungen seiner Schwestern und seiner Freundin Emmy Eisenberg, die ihn oft begleitet, dokumentiert. Zu Hause trainiert er, indem er zwei Gläser verkehrt auf einen Schrank stellt und an ihnen kraft seiner Finger Klimmzüge vollführt. Beim Klettern kleidet er sich elegant, die steirische Tracht lässt er nach seinen Vorstellungen umändern.
Als erste Bergfahrt mit sportlichem Wert zählt für ihn die Begehung der Planspitze-Nordwand im Gesäuse im Sommer 1908. Binnen weniger Jahre gelingen ihm an die 1200 Ersteigungen, 300 im Alleingang, davon 150 Erstbegehungen. Daneben findet er Zeit, in Wien Naturwissenschaften zu studieren. Paul Preuß ist nicht nur ein genialer Kletterer, zahlreiche Ski- und Eistouren in den Hohen Tauern und in den Westalpen machen ihn zu einem der Allroundbergsteiger seiner Zeit.
Er zählt zu den geistigen Vätern des Freikletterns, lehnt jede Form der Sicherung ab, lässt die Verwendung von Seil und Haken nur im äußersten Notfall gelten und betont, dass man jede Wand, die man hinaufsteigt, auch wieder hinunterklettern können sollte. Sein Grundsatz: "Bergtouren soll man nicht gewachsen, sondern überlegen sein."
Bald studiert er in München, wo er Rädelsführer der Kletterszene wird und den "Mauerhakenstreit" über die Sicherungstechnik beim Klettern lostritt. Die meisten Kollegen sehen seine Grundsätze als große Gefahr für jene, die nicht über sein Können verfügen. Preuß: "Wer ein technisches Hilfsmittel braucht, um eine Tour machen zu können, die er ohne dieses nicht wagen würde, soll auf die Tour verzichten!" Doch er nimmt die Diskussion nicht immer tierisch ernst. "Die Fingerspitzen waren durchgeklettert, Leukoplast musste helfen, was mir wohl der strenge Kritiker nicht als Verstoß gegen meine Theorien über künstliche Hilfsmittel anrechnen wird, da ich das Leukoplast mit der Klebeseite nach innen benützte."
Auf Hochtouren
In den Jahren 1911 bis 1913 erzielt er seine größten Erfolge. Erstbegehungen wie die Ostwand der Guglia di Brenta oder die Crozzon-di-Brenta-Nordostwand finden sich in seinem Tagebuch. Mit großer Energie bewältigt er in kürzester Zeit eine Unmenge an Touren. In der Zeit von 4. bis 8. Juni 1911 steigt er im Gebiet der Stubaier Alpen mit Skiern auf 22 verschiedene Gipfel, denen er in der Rosengarten-Gruppe in zwei Wochen dreißig weitere Gipfel folgen lässt.
Er lebt von Vorträgen und schreibt Aufsätze in diversen Alpinzeitschriften. Auch in diesem Punkt werden sich die späteren Profibergsteiger an Preuß ein Beispiel nehmen. Laut Reinhold Messner wird "kein anderer Alpinist für unser Tun eine größere Bedeutung" haben, und ausführlich wird Messner das Leben von Preuß beschreiben.
Es ist ein kurzes Leben. Am 3. Oktober 1913 verlässt Paul Preuß Aussee, um die Nordkante des Manndlkogels am Gosaukamm zu besteigen. Allein. Er kommt nicht zurück. Die Umstände seines Tode bleiben ungeklärt, er wird wohl abgestürzt sein. Die Freunde finden ihn erst am 14. Oktober unter einem zwei Meter hohen Schneehügel am Fuße der Wand.
*Martin Grabner, Bergsteiger und freier Autor, lebt in Wien.
Quelle: (Qulle: Martin Grabner* - DER STANDARD PRINTAUSGABE 22.8. 2006