Am 16. Dezember 2016 klettern David Hefti und Marcel Schenk erstmals eine Kombination zweier bestehenden Routen in der Pizzo Badile Nordostwand. Dabei entsteht ihrer Meinung nach eine der besten Routen, welche sie je geklettert sind. Bemerkenswert ist, dass die zwei nur siebzehn Stunden benötigen vom Parkplatz über den Gipfel und wieder zurück ins Tal. Die beiden Bergführer erzählen von ihrem jüngsten Abenteuer in den Bergeller Alpen.
Marcel
Nach der Durchsteigung von „Amore di Vetro“ am 16. November 2016 bleibt die Nordostwand des Pizzo Badile in meinem Fokus. Verschiedene Ideen werden angeschaut, beobachtet und diskutiert. Weil der Schnee noch auf sich warten lässt, wird ein weiteres Kletterprojekt in Angriff genommen.
Nach einem ersten Versuch, welcher abgebrochen wurde, starten David und ich am 16. Dezember um 03.00 Uhr von Pontresina Richtung Bergell. Nach einer Stunde Autofahrt erreichen wir Laret im Val Bondasca. Vom Parkplatz laufen wir mit leichtem Gepäck und Turnschuhen hoch zur Capanna Sasc Furä. Im kühlen Winterraum werden die Kleider gewechselt. Die leichten Turnschuhe weichen den wärmeren Bergschuhen. Bevor es weitergeht, verpflegen wir uns nochmals richtig gut.
David
Wir sprechen wenig während wir im Mondschein mit den Schneeschuhen von Sasc Furä über La Plota aufsteigen. Der Pizzo Badile thront mit seiner mächtigen Schaufel über uns. Mit jedem Schritt kommen wir dem nächsten grossen Abenteuer näher. Es läuft bestens und wir fühlen uns fit, bemerken wir auf der Schulter. Da, wo eine der schönsten Himmelsleitern der Alpen ihren Ursprung hat, die Badile Nordkante. Doch unser Weg führt uns heute nicht dort hoch. Nachdem wir unser Klettermaterial dem zuvor angelegten Materialdepot entnommen haben, steigen wir in die dunkle, schattige Nordostwand ab. Über ein Band erreichen wir die ersten Verschneidungen der legendären Cassin-‐Route. Perfekte Verhältnisse finden wir da vor. So geht‘s zügig in leichter Mixedkletterei die ersten hundert Meter hoch.
Marcel
Pünktlich zum ersten Licht seilen wir uns an. Die anspruchsvolle Kletterei lässt nicht lange auf sich warten. Der obere linke Wandteil wird von der Morgensonne feurig rot beleuchtet. Es ist ganz still, nichts ist zu hören und die Temperaturen sind mit -‐5 Grad sehr angenehm. Für mich ist es ein unglaubliches Gefühl nach genau einem Monat wieder in dieser spektakulären Wand zu klettern. David übernimmt die Führung und startet im unteren Teil der Via Cassin.
David
Motiviert steige ich ein. Die erste Seillänge haben wir bald hinter uns. Bereits die zweite Seillänge erfordert höchste Konzentration, ruhige Bewegungen und feines Antreten mit den Zacken der Steigeisen auf kleinen Tritte in der Wand. Kurz werde ich durchgeschüttelt, als mir ein Brocken aus hartem Schnee auf den Helm fällt. Jetzt bin ich definitiv hellwach.
Die nächsten Seillängen wird nun Marcel vorsteigen. Die Mixed-‐Kletterei geht im selben Stil weiter. Wir wussten sehr wohl, dass die vereisten Platten der Cassin kein Zuckerschlecken sein werden. Das wird uns nochmals richtig bewusst, als wir am nächsten Standplatz stehen. Doch Marcel hat einen Plan.
Marcel
Dass die nächste Seillänge nochmals anspruchsvoll zu klettern und abzusichern ist, ist mir bewusst. Vom Standplatz geht es über eine dünne Eisglasur zehn Meter horizontal nach links. Gesichert von zwei Klemmkeilen überklettere ich einen steilen Aufschwung hoch zu einer Verschneidung welche sich super klettern und absichern lässt. Nach insgesamt sechzig Metern erreiche ich den Stand unterhalb des Schneefeldes in Wandmitte. David kommt in einem zügigen Tempo nach und übernimmt das scharfe Ende des Seils. Am langen Seil geht es simultan über das steile Schneefeld, zuerst aufsteigend und traversierend, danach wieder absteigend Richtung zentralem Couloir. Hier zieht die Route Memento Mori steil nach oben. Es ist 11.00 Uhr. Wir sind super in der Zeit. Bei einer kleinen Pause diskutieren wir über den möglichen Verlauf der Route.
Bildergalerie: Pizzo Badile „Nordest supercombo“
David
Es gibt nun zwei Varianten um den zentralen Eisschlauch zu erreichen. Links versperrt uns ein kleiner Überhang den Weg. Das schaut schwierig aus. Schräg gegen rechts zieht nach einer fünfzehn Meter langen Eisglasur eine Verschneidung weg. Bis auf einen kleinen Absatz. Da könnten wir über einen dünnen Streifen Eis wieder den Eisschlauch erreichen. Da wollen wir es versuchen. Schnell merke ich, dass wir auch in den nächsten Seillängen voll und ganz gefordert werden. Wider Erwarten legt sich die Wand nicht zurück. Die Kletterei wird hier steiler und steiler. Wahrscheinlich ist es die Schlüsselstelle der Route, die vor mir liegt. Ich entscheide mich, einen guten Standplatz einzurichten, statt weiter zu klettern. Es schaut durchaus machbar aus, aber schwierig. Nun liegt es an Marcel.
Marcel
So machen wir wieder einen Wechsel in der Führung und ich übernehme das scharfe Ende. Auch die Kletterei über mir sieht sehr scharf und wild aus. Nach einem schwierigen Start geht es im Eisschlauch gerade hoch. Die Wand ist steiler als von unten erwartet und braucht volles Engagement. Der Blick runter auf den Cengalo Gletscher ist fantastisch und mit jedem Pickelschlag geht es weiter hoch. Die Seillängen bleiben anspruchsvoll und die Neigung der Wand geht nur langsam zurück. Vom Schneefeld erreichen wir nach insgesamt fünf Sechzig -‐ Meter Seillängen die Gipfelschaufel im oberen Teil der Wand.
David
Mit allem Sicherungsmaterial am Gurt nehme ich nun Kurs Richtung Gipfel auf, mitten durch den mit Schnee und Eis gefüllten Trichter. Wir klettern simultan, das heisst gleichzeitig, zwischen uns sechzig Meter Seil und immer ein paar Sicherungspunkte. Ein Totalabsturz ist so ausgeschlossen. Am Gipfelgrat oben sehe ich die letzten Sonnenstrahlen. Ich möchte unbedingt noch ein paar Sonnenstrahlen im Gesicht haben heute. Die Oberschenkel sind blau. Manchmal halte ich kurz inne, lege eine Sicherung an, versuche zu verschnaufen und schaue runter zu Marcel. Der ruft mir immer wieder zu: „Go, go, go…!“
Da sind sie, die letzten Sonnenstrahlen. Die letzten fünfzig Meter über den Grat zum Gipfel sind begleitet durch ein unbeschreibliches Gefühl. Orange leuchtet das Nebelmeer über dem Comersee. Ich kann es kaum erwarten bis Marcel auch da ist. Wir beide strahlen vor Freude, geniessen den Moment.
Wenige Minuten später sind wir jedoch wieder fokussiert auf den bevorstehenden Abstieg. Die
Dunkelheit wird uns schnell einholen. Darum wollen wir uns beeilen. Wir wählen den Abstieg gegen Osten über die Punta Sertori. Schon bald schalten wir wieder unsere Stirnlampen ein.
Marcel
Von der Schulter seilen wir auf der Ostseite der Punta Sertori in senkrechtem Gelände in die dunkle Nacht ab. Zum Glück kennen wir den Verlauf der Abseilerei und finden ohne Probleme die Haken. Beim Col da Cengalo verpflegen wir uns nochmals. Das Cola in der Flasche ist zu einer eisigen Masse gefroren, so dass es fast schmerzt beim Trinken.
Nach dieser Stärkung geht es 600 Höhenmeter durch das Cengalo Couloir runter auf den Gletscher, von wo aus nochmals 150 Hm Gegenanstieg auf uns warten. Um 19.00Uhr erreichen wir wieder die Schneeschuhe beim Einstieg von der Nordkante.
David
Der Abstieg ins Tal ist lang. Wir sind müde. Den Parkplatz in Laret erreichen wir kurz vor 21:00 Uhr, weniger als 17 Stunden waren wir unterwegs. Badile-‐in-‐one-‐Day! Wow – was für ein Tag!