„Meistens bleibt´s bei einer Verwarnung“
Kletterparadies Großstadt: Bergwelten auf Servus TV taucht am kommenden Freitag in die neue urbane Kletterszene Wiens ein. Die beklettert alles, was Spaß macht: Brückenpfeiler, Stadtbahnbögen, Uferwände, Gebäude, agiert dabei aber in einer rechtlichen Grauzone. Das Phänomen „Klettern in der Großstadt“ scheint neu – und hat doch eine große Tradition.
Es ist ein weltweiter Trend: Kletterer erobern ihre Stadt – und das außerhalb der Kletterhallen. Wien ist dabei in Europa führend. Ein neuer Guide listet über 100 urbane Kletterstellen aus. Die neuen Spots heißen nicht Totenkirchl , Dachldiagonale und Preinerwand – sondern Döblinger Steg, Flexwand, oder Reichsbrückenpfeiler.
Die Herausforderung sind nicht alpine Gefahren wie Lawinen oder Steinschlag, sondern die Bewältigung höchster Schwierigkeiten auf kleinstem Raum. Das so genannte Urban Bouldering bringt einen neuen Blick auf die Stadt, bestätigt die Weltklassekletterin Andrea Maruna: „Jede Mauerfuge wird zum Griff, jeder Brückenpfeiler zum potentiellen Kletterrevier.“ Das Treiben passiert in einer rechtlichen Grauzone: Klettern an öffentlichen Strukturen ist nicht ausdrücklich verboten. Es hängt daher oft vom einzelnen Polizisten ab, ob der Kletterausflug am Polizeirevier endet oder nicht. Auch wenn die Rufe nach Verboten lauter werden, derzeit können die urbanen Kletterer meist mit Verständnis rechnen, bestätigt Philipp Stromer: „Meistens bleibt es bei einer Verwarnung“. Stromer ist Herausgeber des ersten urbanen Kletterführer für Wien , „Urban Wallz“ und sieht seine Initiative auch als Beitrag dazu, den öffentliche Raum für Alle zugänglich zu halten.
„Wienerwaldzapfen“
Wien ist damit nicht zum ersten Mal Vorreiter in der Weiterentwicklung des Klettersports. Schon in der Frühzeit des Apinismus sind es vor allem die Kletterer aus der Großstadt, die neue Revire erschließen. Heinrich Hess, der Autor des ersten Kletterführers der Welt, Paul Preuss und nicht zuletzt auch Viktor Adler haben ihre Spuren vor allem an jenen Gebirgszügen hinterlassen, die von Wien aus schnell erreichbar waren und sind: Rax, Gesäuse, Dolomiten. Die Westalpen sind das große Fernziel, die kleinen Mäuerchen der Stadt oder die Felsen des Wienerwaldes, wie etwa am Peilstein, gelten bestenfalls als Ersatzbefriedigung, sagt der Alpinhistoriker Adi Mokrejs: „Darum sind auch diese Klettertouren etwa am Peilstein nur mangelhaft dokumentiert. Es hätte sich niemand getraut, ein Erstbegehung auf irgendeinem Wienerwaldzapfen von 10 Metern in einer alpinen Zeitung zu veröffentlichen.“
Roofing in der Grauzone
Derartige Bescheidenheit ist nicht die Sache der neuen generation. Für die „Roofer“ ist die Selbstdarstellung im Internet gar Selbstzweck ihres Tuns. Roofing ist ein Trend, der gegenwärtig um die Welt geht: das ungesicherte Beklettern von Gebäuden, Kränen oder Masten – um sich oben selbst zu filmen. Der Ukrainer Mustang Wanted ist der Star der Szene, in Wien ist ein Trio namens „Urban Monkeys“ aktiv. Ihr letzter Coup, die Besteigung des Schlotes am Kernkraftwerk Zwentendorf, hat für gehörigen Wirbel gesorgt. Den Vorwurf der Sachbeschädigung weisen sie aber zurück. Das Trio legt Wert darauf, jede Beschädigung fremden Eigentums zu vermeiden und schon gar nicht irgendwo gewaltsam einzudringen, im Gegenteil: „Irgendeine Tür ist immer offen. Es steckt aber schon ein anarchischer Gedanke dahinter, weil wir Fremdbesitz betreten. Aber die meisten sehen das relativ entspannt.“
Der Meilenstein
Der Film zeigt einen Meilenstein in der österreichischen Klettergeschichte: die Erstbesteigung des Millenium-Tower durch den Tiroler Jakob Schubert. Für den dreifachen Gesamtweltcupsieger im Sportklettern war der Ausflug in die Welt des Gebäudekletterns eine mindestens ebenso große Herausforderung wie deine Felstouren im neunten Schwierigkeitsgrad. Das mit 202 Metern höchste bekletterbare Gebäude Österreichs wird für ihn zum echten Prüfstein – wenn auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht mit dem zu vergleichen ist, was sein Vorfahr im Geiste, der Kletterer und Alpinautor Charly Lukan Anfang der 50er Jahre erlebt hat. Tausende haben den Atem angehalten, als er mit seinem Kollegen Hans Schwanda auf den Südturm des Stefansdoms geklettert ist, mit 137 Metern Höhe immerhin Jahrhundertelang das höchste Gebäude des Landes. Der Coup war nur dank einer Notlüge mit Billigung des ebenfalls bergbegeisterten Dompfarrers Alois Wildenauer möglich. „Messungen der Pendelbewegungen des Turmes“ mussten als Ausrede für die Aktion herhalten, mit der Lukan den national-heroischen Mief, der dem Alpinismus nach dem zweiten Weltkrieg anhaftete, hinwegfegte. Geklettert durfte nun wieder aus purer Lust werden, und nicht zur Verherrlichung einer Staatsideologie.
Die Dokumentation „Kletterparadies Großstadt – Die Erstbesteigung der City“ von Arman Riahi zeigt die vielfältigen Erscheinungsformen des Kletterns in Wien – und eine neue Szene an Kletterern, die zur Erfüllung ihrer Träume nicht erst in die Gebirge der Welt ziehen muss, sondern ihren Spaß vor der Haustüre findet: mitten in der Großstadt.
Sendehinweis:
Bergwelten: "Kletterparadies Großstadt" in Erstausstrahlung bei ServusTV am
Freitag 30.10. ab 20:15 Uhr
Samstag 31.10.2015 | 0:05
Samstag 31.10.2015 | 13:25