Mit „Kanal im Rücken“ eröffnete Wolfgang Güllich 1983 die zum damaligen Zeitpunkt schwerste Sportkletterroute weltweit. Auch heute noch gilt die Tour als Messlatte des Zehnten Grades. Gerade deshalb, weil der geforderte Kletterstil heutzutage so gar nicht mehr als „modern“ bezeichnet werden kann, übt diese Route noch heute eine besondere Anziehung auf die Kletterer aus. Auch mich zog die Linie wegen ihrer Historie und ihrem Status als Klassiker magisch an.
Geschichtliche Hintergründe zu „Kanal im Rücken“ und meinem eigenen Erfahrungsprozess dabei, sind Thema des beigefügten Videos und der nächsten Zeilen.
„Flipper“ Fietz , Jerry Moffat und Wolfgang
Die Felsen der Kastlwand bildet mit bis zu 70m Wandhöhe das höchste Massiv des Altmühltals. Hier wurde bereits 1977 Klettergeschichte geschrieben, als Kurt Albert mit dem „Exorzist“ (2 Seillängen, 8- und 7+) und dem „Osterweg“ (8-) zwei frühe Routen des unteren Achten Grades eröffnete. Diese beiden Routen stechen auch heute noch durch ihre Kühnheit und ihren technischen Anspruch hervor.
Mal wieder war es kein geringerer als der Franke Wolfgang „Flipper“ Fietz, der wie so oft die Linie als erster in Augenschein nahm. In seinem gewohnten Stil zog er alle Einzelzüge der Tour im Toprope und war zufrieden damit. An einer Rotpunktbegehung war er nicht interessiert.
Besonders prägend für die deutsche Kletterszene der damaligen Jahre gestalteten sich die Besuche des britischen Ausnahmekletterers Jerry Moffat. Er kletterte einige der bis dato schwierigsten Wege des Frankenjuras „onsight“ beziehungsweise „flash“ und setzte im Jahr 1983 mit der Erstbegehung von „The Face“, der ersten Route im unteren zehnten Grad, einen neuen Meilenstein.
Beeindruckt von der unglaublichen Leistung des Briten verschwanden die deutschen Kletterer im darauffolgenden Winter hochmotiviert in ihren Trainingskellern. Und das trug seine Früchte: Das „Face“ bekam seine ersten Wiederholungen und es kamen einige neue Testpieces im unteren zehnten Grad hinzu.
Auch Wolfgang Güllich suchte nach neuen Herausforderungen. Und er fand sie, wie so oft, in einem alten „Toprope-Boulderprojekt“ von Flipper Fietz an der Kastlwand im Altmühltal. Nachdem Flipper ihm die Route gezeigt hatte, benötigte Güllich immerhin vier Tage, bis ihm die erfolgreiche Rotpunktbegehung glückte. Der Name, den er seiner Erstbegehung verlieh, geht dabei wohl auf den höchst umstrittenen Bau des Rhein-Main-Donau-Kanals, dessen Ufer nur wenige Meter vom Felsen entfernt verläuft, zurück.
– „Kanal im Rücken“ –
Der „Kanal“ blieb dreizehn Jahre lang die schwerste Kletterroute im Altmühltal.
Meine Eindrücke von der Route:
Schon oft bin ich bei meinen Besuchen an der Kastlwand am „Kanal“ vorbei gestiegen und habe die Linie, die sich durch dieses extrem glatte und abweisende Stück Fels zieht, ehrfürchtig mit den Augen verfolgt.
„Irgendwann probiere ich das mal…“
Und im Frühjahr 2020, nachdem ich schon einige Routen im zehnten Grad geklettert hatte, stand endlich der „Kanal“ auf meiner To-do-Liste.
Dieser Klassiker der Freiklettergeschichte bietet an Schwierigkeit und Ästhetik alles, was sich das Kletterherz wünscht. Unbarmherzige Einstiegszüge im neunten Grad führen zu einer äußerst selektiven Crux, die rohe Kraft gleichsam mit präziser Bewegungskontrolle und filigranster Fußtechnik erfordert. Noch nie habe ich für nur einen Zug so oft anrücken müssen wie für diesen.
Und nach dieser Stelle ist es noch nicht vorbei. Bis zum Umlenker gilt es noch 7 Meter im Achten Grad zu bewältigen. Und damit es nicht allzu langweilig wird, stecken hier natürlich keine Haken mehr. Mobiles Gerät lässt sich zwar sehr gut legen, aber die Kletterei bleibt trotzdem unsicher und wackelig. Ich kenne so manche „Altmühltalgröße“, die hier noch unfreiwillig die Reise nach unten angetreten hat…
Doch bereits nach etwa vier Tagen in der Route musste ich den Plan wieder abblasen. Zu schwer waren mir damals noch die Züge, selbst die Einfacheren. Der „Kanal“ ist definitiv kein Zehner „to go“. Zudem hatten sich die Ringbänder meiner beiden Mittelfinger durch die ungewöhnlich hohe Belastung leicht entzündet und schmerzten entsprechend.
Also lieber Pause machen, andere Projekte mit besseren Griffen versuchen und wann anders wieder anrücken, dachte ich mir und ließ das Projekt wieder ruhen.
Aber die Motivation blieb hoch.
Für die nächste Frühjahressaison 2021 überließ ich nichts mehr dem Zufall. Mit dem Motto „trainiere nur so viel wie nötig, aber gleichzeitig so hart und speziell wie möglich“ gestaltete ich mir ein spezifisches Finger- und Oberkörperkrafttraining, um dem Schlüsselzug möglichst gut gewappnet zu sein.
Und der Plan ging auf. Nach wenigen Tagen im neuen Jahr machte ich bereits gute Fortschritte im Projekt. Der Einstieg klappte immer häufiger, lief immer flüssiger und erstmals konnte ich die Schlüsselsequenz isoliert klettern. Zeit also für ernsthafte Durchstiegsversuche. Trotz eines unangenehmen Wintereinbruches im März konnte ich erstmals bei einem Versuch mit Frosttemperaturen die Schlüsselsequenz vom Boden aus durchpressen. Ich war auf Durchstiegskurs! – und nervöser denn je. Denn: Auf einem der Mikrotritte im Ausstieg hatten sich bei einem kurzen Schneeschauer einige Eiskristalle gesammelt. Der Tritt war rutschig und machten die letzten Züge unangenehm spannend. Aber die Füße blieben kleben. Die Freude beim Klippen des Umlenkers war unbeschreiblich und kommt im Durchstiegsvideo vermutlich besser rüber als in tausend Worten. Das Training und die vielen Tage in der Kälte der Kastlwand haben sich ausgezahlt. „Kanal im Rücken“ ist zwar nicht mein erster Zehner, aber mit absoluter Sicherheit mein schwerster.
Ein riesengroßes Dankeschön an meine Freundin Nati für das geduldige Sichern und an Lando und Tobi für die Film-, Foto- und Produktionsarbeit.