Der Nordost-Pfeiler am Pizzo Badile ist wohl die wildeste und abweisendste Ecke im Bergell. Nur schon der Zustieg von der Südseite, über das Colle del Cengalo, beinhaltet über zweitausend Höhenmeter Aufstieg. Anschliessend wird siebenmal in dem ausgeaperten Klucker-Couloir auf der Nordseite abgeseilt. Dabei gibt es nach der vierten Abseillänge kein Zurück mehr. Der Weg führt nur noch über den Gipfel.
Das Warten auf den perfekten Tag
Für diese Tour muss einfach alles passen, dies wurde uns schon bei der Planung und Informationssuche bewusst. Nach einigen Recherchen und einem Treffen mit Danielo Valsecchi, dem die erste und bis dato einzige Winterbegehung gelang, fanden wir heraus, dass die Route erst zwei Wiederholungen hat. Die Idee diese alte Route in freier Kletterei zu probieren wurde zu einem Plan, einem Plan der aber nur unter besten Bedingungen aufgehen würde. So vergeht der Sommer. Anfangs September schneit es. Die Saison am Pizzo Badile scheint vorbei zu sein.
Doch plötzlich haben wir vielleicht doch eine Chance für einen Versuch. Langsam schmilzt der Schnee im Bergell. So entschließen wir uns aufzubrechen.
Von schmerzenden Finger aus dem Schlaf gerissen
Immer wieder erwachen wir. Einmal weil wir wegen dem bissigen Nordwind frieren, das andere Mal, weil die Finger und der Rest vom Körper von den Strapazen der letzten zwei Tagen schmerzen. Wir sind jedoch ganz guter Laune auf unserem Portaledge, welches am Ende der grossen Schwierigkeiten wie eine Rettungsinsel hängt. Am Tag zuvor konnten wir als Team alle schweren Seillängen frei klettern. Teamwork ist in dieser Route ein Muss.
Nach dem langen Zustieg und dem ersten, im Verhältnis einfacheren Abschnitt, forderte uns das Mittelstück alles ab. Über mehrere Seillängen ist die Wand senkrecht bis leicht überhängend und bietet unglaubliche Kletterei.
Altes Hakenmaterial erfordert höchste Konzentration
Die vorhandene Absicherung ist haarsträubend. Die alten Haken sind alles andere als zuverlässig. Sie können zum Teil von Hand entfernt werden oder brechen beim Nachschlagen mit dem Hammer einfach ab. Da ist volle Konzentration gefragt. Wir versuchen die Absicherung so gut wie möglich durch mobile Sicherungsmittel zu ergänzen. Es ist vielmehr die psychische Belastung im Vorstieg, die uns hier ans Limit bringt, als die reinen Kletterschwierigkeiten. Nach zwei anhaltend schwierigen Seillängen machen wir eine Pause auf dem Portaledge und studieren voller Spannung die nächste Seillänge. Über mehrere Überhänge führt die Linie gerade hoch. Viele Fragen stellen sich uns. «Hat es genügend Griffe um das frei zu Klettern? » «Kann vernünftig gesichert werden? » und, und,
und…
Senkrechte bis leicht überhängende Kletterei
Fragen, die nur beantwortet werden können, wenn wir es auch versuchen. Also macht sich Mäse bereit. Schon nach den ersten Klettermetern, ist der Puls gefühlt auf über zweihundert. Schwierige Kletterzüge bei nicht ganz optimaler Absicherung bringen Mäse ans Limit. Nach etwa fünfzehn Metern kommt das grösste Dach. Unter der Dachkante kann ein perfekter Knieklemmer gemacht werden und damit ist eine Erholung möglich. Nach dem Dach geht es an kleinen Leisten weiter und nach 35 Metern kommt der jubelnde Schrei:
«Stand». Wir sind auf Kurs, um unser Ziel zu erreichen. Eine weitere anspruchsvolle Seillänge bringt uns unter eine leicht überhängende Platte, welche nur ganz wenig Struktur aufweist.
Der Freikletter-Traum wackelt
Es ist schon nach 18.00 Uhr. Wir sind bereits über 14 Stunden unterwegs und in einer knappen Stunde wird es dunkel. Kurz sinkt die Stimmung, denn die Platte sieht nicht gerade kletterbar aus. Wir diskutieren über eine allfällige Variante vom Stand rechts weg und erhoffen uns so Fels mit mehr Struktur zu finden. Die Erstbegeher haben sich hier mittels einer Hakenleiter einfach direkt über die glatte Wand hochgebohrt. David möchte vor dem Biwak die Platte noch auschecken und steigt an den alten Haken hoch, er reinigt ein paar Strukturen und meint er wolle es einmal versuchen. Nach ein paar kräftigen Boulderzügen an messerscharfen Griffen hält David jubelnd die Kante oberhalb der Platte. Nun ist klar, dass es möglich ist. David klettert weiter. Zwanzig Minuten später und mit einer ziemlich exponierten Variante steht David im Halbdunkeln beim nächsten Stand am Ende der großen Schwierigkeiten.
Klettern im Stirnlampenlicht
Im Schein der Stirnlampe steigt Mäse nach. Er kann es kaum fassen, bei jedem Zug hat er das Gefühl gleich zu stürzen aber der Grip ist durch den
auffrischenden Nordwind so perfekt das
er an den Finger und Fussspitzen kleben bleibt. Oben angekommen ist die Erleichterung riesig. Mit tauben Fingern richten wir uns für die Nacht ein mit dem Wissen, die Hauptschwierigkeit hinter uns zu haben.
Der vermeintlich einfach Ausstieg auf den Gipfel
Nach einer mehr oder weniger entspannten Nacht, nehmen wir es am nächsten Morgen gemütlich. Wir erwarten keine grossen Schwierigkeiten mehr in den letzten fünf Seillängen zum Gipfel. Dieser Schein trügt, so sind wir schon nach kurzer Zeit mit Schnee und Eis konfrontiert und die Kletterei fordert uns bis zum letzten Meter. Um die Mittagszeit stehen wir mit Sack und Pack auf dem Gipfel. Erleichterung und Freude sind riesig, doch wartet noch ein langer Abstieg auf uns.
Routeninfo « Free Nardella » (7b+, 7a obl. expo!)
Erstbegehung der «Via Nardella» (V, A3, 900m) durch Elio Scarabelli, Tiziano Nardella, Daniela Chiappa und Giulio Martinelli vom 9. – 13. September 1973.
Bei der ersten freien Begehung am 17. & 18. September 2019 wählen David Hefti und Marcel Schenk eine direktere Einstiegsvariante über die ersten beiden Seillängen der «Via Hiroshima» (6a, 6c+) und erreichen damit die Verschneidungssysteme der «Via Nardella».
An zwei Standplätzen ergänzen sie die bestehenden alten Bohrhaken durch je einen neuen.