In einer fast märchenhaft wirkenden Winterlandschaft erstreckt sich in einem kleinem Seitengrund des Zillertals der, zumindest im Winter, sehr einsame Stillupper-Stausee. Am Süd-Westufer des Sees erheben sich steile Felswände in Richtung des Floitenkammes, der eine 12.5 Kilometer lange scharfe Gratschneide zwischen dem Dristner und dem Großen Löffler bildet. An diesen Steilwänden ist ein Wasserfall zu einer riesigen Eissäule erstarrt.
Der Wasserfall ist 270 Meter hoch und durchgehend sehr steil, ja meist senkrecht und überhängend.
Bereits 1986 wagte Swami Prem Darshano mit seinem Seilpartner Hanspeter Schrattenthaler einen, zur damaligen Zeit äußerst kühnen Versuch, den Wasserfall zu besteigen.
Mitten im See ein Leck im Boot
Dieser Versuch begann schon mit einem großen Abenteuer bevor sie überhaupt das erste mal die Pickel ins Eis schlugen. Wegen des oft hohen Wasserstandes reicht das Wasser nämlich nicht selten bis an die steilen Felswände heran und der Wasserfall ist zu Fuß sehr schwer zu erreichen. Aus diesem Grund entschlossen sich die Beiden, den See mit einem kleinen Boot zu überqueren. Mitten im See bemerkten die Beiden ein nicht gerade kleines Leck im Boot. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als dass der eine so schnell wie möglich ruderte, während der andere mit dem Steinschlaghelm das Wasser aus dem Boot schöpfte. So erreichten die beiden nur mit Müh und Not das andere Ufer. Durch diesen kleinen Zwischenfall keineswegs entmutigt rückten sie dem Eisgiganten nur wenige Tage später mit Pickel und Steigeisen zu Leibe. Sie mußten jedoch nach 150m Kletterei im senkrechten Eis unter einem mächtigen Eisüberhang, der ihnen mit riesigen Eiszapfen den Weg versperrte, kapitulieren. Sie nannten den Wasserfall "DIE KRÖNUNG".
Die Zillertaler Bergsteigerelite wußte zwar um den damaligen Besteigungsversuch und um das wunderschöne, lockende Eisgebilde, das sich nicht jeden Winter so gut aufbaut, daß es begehbar erscheint. Doch niemand wagte einen weiteren ernsthaften Versuch. Die Versuche in den beiden Folgejahren scheiterten und 1989 gelang Darshono L. Rieser und Hanspeter Schrattenthaler schließlich die Erstbegehung.
Stubaier Eiskletterpionier Andreas Orgler entdeckte das Kronjuwel
Erst der Stubaier Eiskletterpionier Andreas Orgler entdeckte 1990 das Kronjuwel mitten im Herz der Zillertaler Alpen wieder. Nach einem erfolglosen Anlauf, der ebenfalls unter dem riesigen Eisüberhang endete, gelang ihm schließlich die erste vollständige Durchsteigung mit seinem Seilpartner Otti Wiedmann. Aber war es wirklich die erste Besteigung ? Als Orgler nämlich die Hauptschwierigkeiten (die einem erst auf den letzten 100 Metern erwarten !!) hinter sich hatte und ans obere Ende gelangte, steckte dort ein Haken im Fels. Wie kam er dort hin? (Anm. bergsteigen.com 2020: Der Haken stammt von Darshano L. Rieser und Hanspeter Schrattenthaler, denen nach zwei weiteren Fehlversuchen 87 u. 88 im Jahr 1989 die Erstbegehung gelang).
Es muß jemand hier gewesen sein. Aber wer ? Ist ihm ein stiller Zillertaler Spitzenkletterer zuvorgekommen ? Oder stammt er von einer Erkundungstour von oben her ? Es ist bis jetzt ein Rätsel geblieben (siehe dazu Anm. oben!) . Andreas Orgler weiß noch von zwei weiteren Begehungen nach ihm. Demzufolge waren wir die Vierten (Anm.: 5.). Wir, das sind Josef Gwiggner und ich. Josef, bei uns auch "Wüdschnauer Sepp" genannt, ist wohl einer der größten Alpinisten unser Zeit, doch nur wenige kennen ihn. Seit seinem 18. Lebensjahr zieht es ihn in die Berge. Ihm sind alle großen Klassiker in der Alpen geglückt. Ich kenne keine berühmte Tour die er nicht geklettert ist, seien es Matterhorn, Grandes Jorasses oder Eiger,dessen Nordwand er schon dreimal durchstiegen hat. Die Liste könnte endlos weitergeführt werden. Alleine im Mt. Blance Gebiet stehen 73 Touren in seinem Tourenbuch !
Wüdschnauer Sepp, er war das Zugpferd der Besteigung
Heuer feiert er seinen 52.Geburtstag. Erst vor fünf Jahren entdeckte er seine Liebe zum Eiswasserfallklettern und prompt hakte er die schwierigsten Wasserfälle der Reihe nach ab. Seit dem vergehen die Winter, in denen er bis zu 100 Wasserfällen klettert, darunter auch kühne Alleinbegehungen und schwierigste Erstbegehungen. Er war das Zugpferd bei unserer Besteigung. Wir entschlossen uns eigentlich sehr kurzfristig die Krönung zu klettern und hatten eigentlich recht wenige Informationen darüber. Wir wußten, daß Darshano und Schrattenthaler fast ertrunken wären um zur Krönung zu gelangen. Ebenso wußten wir aber, daß Orgler auch ohne Boot zum Wasserfall gekommen ist. Vermutlich hing es vom Wasserstand des Stausees ab, wie man am Besten zum Einstieg gelangt.
Wir staunten nicht schlecht als wir die Krönung erblickten
Wir fuhren also auf gut Glück am Morgen des 12. Jänner, um sechs Uhr früh, ins Zillertal. Mit dem Auto gelangten wir zum Gasthaus Lacknerbrunn. Von dort aus ging es mit den Schiern Richtung Stilluper-Stausee. Dort angekommen staunten wir nicht schlecht als wir die Krönung zum Erstenmal erblickten. Einsam und königlich stand sie über dem See und beherrschte majestätisch das Tal. Anders als Darshano und Schrattenthaler zogen wir es vor, festen Boden unter den Füßen zu behalten und folgten einer Fuchsspur, die uns am engen Ufer entlang, direkt zur Krönung führte. Als wir schließlich beim Einstieg waren, wäre uns lieber gewesen, wir wären um zwei, drei Stunden früher aufgestanden, denn es war schon bald zehn Uhr bis wir einsteigen konnten.
So nahmen wir die ersten 120m in Angriff
Unsere Taktik war folgende: Josef steigt alles vor, baut wenn die 60m langen Seile zu Ende sind einen guten Stand, damit ich im Nachstieg auch mal einen Sturz riskieren könnte um so schnell wie möglich nachzukommen. So nahmen wir die ersten 120m in Angriff. Das Eis war perfekt und so wurden die ersten beiden Seillängen zu einem richtigen Genuß. Die dritte Seillänge machte zuerst den Eindruck als würde sie die leichteste werden. Es sollte sich jedoch zum Gegenteil wenden. Josef nahm die ersten 30 Meter in gewohntem Tempo auf und verschwand hinter einer Felskante, die mit dünnem Eis überzogen war. Sobald er meinen Blicken entschwunden war stockte sein Tempo plötzlich und das Seil lief nur mehr zentimeterweise durch meinen Sicherungskarabiner. Ich weiß nicht wie lange es gedauert hat bis endlich die 60 Meter Seil zu Ende waren. Wir hatten weder Blick noch Rufkondakt und das Zeichen, daß Josef einen Standplatz gefunden hatte ( das sich immer durch einen kräftigen Zug am Seil bemerkbar machte, so daß ich mich immer gleich um 20 Kilo leichter fühlte) blieb aus. Es blieb mir nichts anderes übrig, als daß ich meine Selbstsicherung löste und solange weiter klettere, bis Josef einen vernünftigen Standplatz gefunden hatte. So kletterten wir im Schneckentempo gleichzeitig etwa 20 Meter und das, wie ich erst später bemerkte nur an zwei Eisschrauben gesichert. Wobei Josef etwa 25 Meter über der letzten Sicherung einen meisterhaften Eiertanz auf unzähligen ca. 20cm langen und 5 cm dicken Eispilzen vollführte. Obwohl ich das vorerst nicht wußte, war ich sehr erleichtert als ich plötzlich den starken Zug am Seil spürte. Drei Meter bevor ich zu Josef in einen Adlerhorst aus Eis stieg, sah ich noch eine abgebrochene Hohlhaue, die von einem Eisgerät Josefs stammte, im Eis stecken. Wir befanden uns nun an jener Stelle, wo die meisten Begehungsversuche scheiterten.
Die nächsten zehn Meter sehen furchtbar aus
Wir standen direkt unter dem Überhang auf einer fast runden Eiskrone die das von den Überhängen tropfende Wasser gebildet hatte. Zum Glück hatte Josef eine zweite Haue für sein Eisbeil dabei, denn mit diesem Problem hatte er schon Erfahrungen gemacht. Er hatte seinen Pickel schon repariert ehe ich zu ihm auf den Standplatz kam. Oft kommt mir Josef vor wie ein Zauberer, der alles zugleich machen kann, ohne dabei die Ruhe zu verlieren. Die Köpfe in den Nacken, betrachteten wir die drohenden Eiszapfen über uns die Swami Prem Darshamo mit folgenden Wort beschrieb: "Die nächsten zehn Meter sehen furchtbar aus. Wohin wir auch schauen, überall senkrecht übereinandergeschichtete kleine Eiszäpfchen, ein klirrendes und unkletterbares Eismosaik aus Stalaktiten und Luftkammern. Herrlich für das Auge eines Males, schrecklich für das eines Eiskletterers. Seltsame Gedanken spuken durch unsere Köpfe: ein Wurfanker würde uns weiterhelfen....., nur noch ein dreifacher Steigbaum.... Lauter Hirngespinste. Solch ein ziseliertes Kunstwerk aus Eis ist nie und nimmer kletterbar, wir müssen zurück."
es weascht worscheinlich hibsch scheppan und rumpen
Im ersten Augenblick dachte ich das gleiche, doch Josef ist einfach durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Er sagte nur in seinem Wildschönauer Dialekt: " Mei i schaugs ma hoit amoi uh. paß auf! es weascht worscheinlich hibsch scheppan und rumpen, a bor zapfn wean scho oicha kugln." Und schon kletterte er mit einer Seelenruhe in das Gewirr von kreuz und quer gewachsenen Eiszapfen. Nicht selten flogen riesige Eisbrocken nur zwei Meter an mir vorbei, ich stand jedoch seitlich durch einen Felsüberhang geschützt. Nach einigen Metern verschwand Josef wieder hinter einer Kante Ich hörte nur das Donnern des Eises, manchmal wurde es ruhig und ich hörte ihn rufen: "Do is vielleicht a bärigs eis! Ned amoi so schwar wias ausgschaug hot! Oba mit 6 muaß mas scho bewertn." Dann kam er wieder in leichteres, aber doch fast senkrechtes Gelände mit kompaktem Eis und in gewohnter Schnelligkeit war das 60 Meter lange Seil auch schon wieder zu Ende und der nervenberuhigende starke Ruck am Seil war auch wieder zu spüren. Ich folgte so schnell ich konnte, denn mittlerweile waren schon einige Stunden vergangen und schließlich mußten wir ja auch noch den ganzen Wasserfall hinunter. Am Anfang brauchte ich noch nicht mit meinen Eisgeräten ins Eis zuschlagen, denn ich konnte die Löcher die Josef hinterließ gut sehen und ich brauchte die Spitze der Eisbeile nur darin einhängen damit ich höher steigen konnte.
Aber sobald die Schwierigkeit richtig begannen, hatte ich es wieder mit einem mir unerklärlichen Phänomen zu tun, das mich immer beschäftigt, wenn ich im Eis mit Josef klettere. An den schwierigsten Stellen ist jedes Zeichen von Josef spurlos verschwunden. Kein Loch die seine Eisbeile hinterlassen müßten, nicht einmal die geringste Spur eines Steigeisenkratzers im Eis. Es kostet mich immer unbeschreibliche Mühen mit den Pickel Halt zu finden, wo Josef so schnell und sicher klettern kann. Schließlich gelingt es mir doch die schwierigsten Stellen hinter mir zu lassen und als ich oben war, standen wir plötzlich am Ende des Wasserfalls. Wir hatten für 270 Meter nur vier Seillängen gebraucht! Auf die Frage wie Josef seine Spuren verwische antwortete er nur: "jo mei, wenns ma z'schwar weascht los i oafoch a stücke aus."
"Fahrt ins Leere"
Dann galt es keine Zeit zu verlieren, denn wir hatten das Gefühl, als würde es schön langsam dämmrig werden. Wir drehten uns mit den Eisschrauben eine Sanduhr ins Eis und begannen sofort mit dem Abseilen. Normalerweise ist abseilen ein Routinevorgang und jeder Handgriff sitzt automatisch, doch bei dieser "Fahrt ins Leere" waren unsere Nerven ziemlich angespannt. Zum Einen muß man sein ganzes Gewicht einer Eissanduhr anvertrauen und zum Anderen schwebten wir, als wir über den Großen Überhang kamen, in einer Höhe von ca. 200 Metern etwa 10 Meter von der Wand entfernt in der freien Luft.
Als wir wieder zu unseren Rucksäcken kamen war die Dämmerung schon weit fortgeschritten und als wir zum Auto zurück kamen hatte uns die Dunkelheit eingeholt.
Text und Fotos: Markus Koidl
Bei den Infos half uns neben Markus Koidl auch Michael Höllwarth (Michael machte nach Markus die vermutlich 5te Begehung und stieß dabei auf die alten Standhaken von Swami Prem Darshano, da er unten etwas weiter rechts kletterte... )