„Ich hoffe, ich sterbe nicht in den Bergen, denn das wäre eine Enttäuschung für mich. Denn wahrscheinlich hätte ich dann einen Fehler gemacht und es wäre ein Versagen, das, was ich in den Bergen tue, zu kontrollieren. Ich möchte mit 99 Jahren im Bett umgeben von meiner Familie und in Frieden sterben.“
Am Freitagabend, dem 24. August 2018, ist Jeff Lowe im Kreise seiner Familie gestorben. Er wurde nicht 99, sondern nur 67 Jahre alt. Jeff Lowe wird oft als bester Bergsteiger seiner Generation bezeichnet, zweifelsfrei als „das Beste, das Nordamerika auf diesem Gebiet zu bieten hatte“. In der Tat haben seine visionären Touren und vor allem seine völlig neue Herangehensweise an alpine Probleme unzählige Kletterer und Bergsteiger nach ihm geprägt. Geboren 1950 in Ogden, Utah als viertes von acht Kindern stand er schon im zarten Alter von 7 Jahren gemeinsam mit seinem Vater und zwei seiner Brüder am Gipfel des Grand Teton in Wyoming. Im Alter von 14 Jahren biwakierte Lowe alleine am Mount Ogden und erstbestieg dessen Ostwand, so wird erzählt. Insgesamt gelangen Lowe mehr als 1000 Erstbegehungen.
1974 kletterte Lowe die Bridalveil Falls in Telluride, Colorado, ein 125 Meter langer, überhängender und äusserst instabiler Eisfall. Dort wo andere Bergsteiger keine Chance sahen, sah Jeff Lowe Möglichkeiten. 1978 kletterte Lowe die Bridalweil Falls noch einmal. Aber nach 60 Metern machte er sich einfach vom Seil los und kletterte den Eisfall free solo bis zum oberen Ende. Das brachte ihn aufs Cover von Sports Illustrated.
Ebenfalls 1978 reiste Jeff Lowe gemeinsam mit seinem Cousin George, Jim Donini und Michael Kennedy zum Latok 1. Ihr Ziel war der Nordgrat. 19 Tage verbrachte das Team in der Wand und arbeitete sich Stück für Stück nach oben. Am 20. Tag, nur 137 Meter unterhalb des Gipfels, wurde Lowe krank, ein Rückfall von Denguefieber. Sie kletterten eine weitere Seillänge, doch dann entschieden Lowes Seilpartner umzukehren, um Jeff in Sicherheit zu bringen. Am 26. Tag kehrte das Team völlig ausgezehrt ins Basislager zurück. Diese Besteigung – obwohl nicht zu Ende geführt – wurde zu einer der grössten alpinistischen Leistungen der Geschichte. Erst heuer im August behauptete der Russe Alexander Gukov gemeinsam mit seinem Seilpartner Sergey Glazunov den Nordgrat als erste Seilschaft vollständig bestiegen zu haben.
Auch im Himalaja war Jeff Lowe erfolgreich, unter anderem mit einer Solo Begehung der Ama Dablam Südwand 1979.
Nicht nur die körperlichen Leistungen von Jeff Lowe waren legendär, sondern auch die Spiritualität, mit der er an schwierige Besteigungen und Free Solo Begehungen heranging. Immer wieder erzählte Lowe von sogenannten Erscheinungen, spirituellen Momenten, die er während ganz besonders schwerer Touren hatte. Der wohl prägendste spirituelle Moment für Lowe fand während der Erstbegehung der Direttissima durch die Eiger Nordwand 1991 statt. Diese Route, er nannte sie Metanoia, sollte sein Leben für immer prägen. Neun Tage war Lowe völlig allein in der Wand. Als er in der Nähe des Wandausstiegs bereits körperlich am äussersten Limit in einer Schneehöhle vor einem Sturm Schutz suchte, hatte er eine Art ausserkörperliches Erlebnis. „Meine Bewusstsein und mein Ich verliessen meinen Körper und gingen auf eine Tour im Universum. Ich sah das Land unserer Vorväter und sah wie die DNA funktioniert, die jede Einheit in materielle Realität verwandelt. Auch sah ich schwarze Löcher, dunkle Materie und die Krümmung von Raum und Zeit. Dann war ich auf einmal wieder in der Schneehöhle und starrte auf den Spindrift der vor mir runterkam und auf den Himmel, der aufriss“, sagte Lowe danach in einem Interview. Nach diesem Erlebnis kletterte er weiter und als ihm kurz vor dem Gipfel das Seil ausging, beging er das letzte Stück free solo. Vom Gipfel wurde er von einem Hubschrauber, den seine Freunde Jon Krakauer und David Roberts organisiert hatten, hinunter geflogen. Erst 2016 wurde die Metanoia von Thomas Huber, Roger Schäli und Stephan Siegrist zum ersten Mal wiederholt.
Jeff Lowe hinterlässt aber auch in anderer Weise Spuren in der Bergsteigerwelt. Er gründete gemeinsam mit seinem Bruder Greg die Marke Lowe Alpine, die vor allem für ihre leichten und funktionellen Jacken, Rucksäcke und Kletterausrüstung bekannt ist. Er entwickelte u.a. den ersten brauchbaren Eishaken, den sogenannten Snarg, der das Eisklettern revolutionierte. Ausserdem half Lowe bei der Gründung des mittlerweile legendären Ouray Eisfestival.
Im Jahr 2000 wurde bei Lowe eine Motoneuron-Krankheit, ähnlich der Amyotrophischen Lateralsklerose, festgestellt. Dabei handelt es sich um eine nicht heilbare degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystem. 18 Jahre lang kämpfte Jeff Lowe tapfer gegen diese Krankheit, die ihn am Ende zu einem völligen Pflegefall werden liess. Trotzdem bewahrte er immer seinen Humor und seine positive Einstellung. 2017 erhielt er den Piolet d’Or für sein Lebenswerk.
Als es am Mittwoch letzte Woche hiess, Lowe habe nur mehr wenige Stunden zu leben, versammelten sich Familie und Freunde an seinem Krankenbett in einem Hospiz um noch einmal gemeinsam mit ihm sein äusserst intensives Leben zu feiern, mit ihm zu lachen und zu weinen. Lowe hatte gebeten sein Bett für seine letzten Stunden auf die Terrasse zu schieben. Denn er wollte noch einmal draussen sein und draussen in Frieden sterben.
Lowes Tochter Sonja schrieb auf Facebook: „Mein Vater Jeff Lowe, um es mit seinen Worten auszudrücken, ist einfach von diesem materiellen Flugzeug zum nächsten übergegangen“.
Text: Lisa-Maria Laserer