Im Zeitraum von nur drei Tagen ereigneten sich in vielen Bundesländern Österreichs zahlreiche Lawinenabgänge. In Tirol und Vorarlberg waren Unfälle mit Personenbeteiligung am häufigsten, acht Todesopfer finden sich in diesem Zeitraum in den Auswertungen der Alpinunfalldatenbank des Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit (ÖKAS) und der Alpinpolizei. Es ist auffällig, dass in wenigen kurzen Perioden eines Winters Ereignis- und Opferzahlen wesentlich höher sind als in den übrigen Zeiträumen. Als „Lawinenzeiten“ bezeichnen Expert:innen dieses Phänomen, und fragt man sie nach weiteren Hintergründen, gibt es klare Antworten und Empfehlungen. Gleichzeitig erreichen Lawinenwarner:innen die Grenzen ihrer Möglichkeit, Wissen weiterzugeben und die Wintersportler:innen zu erreichen. Ihre Forderung: Warnungen müssen besser wahrgenommen werden und sich auf das Verhalten im Gelände auswirken.
Unfallzahlen Lawine
Im Zeitraum von 03.02.2023 bis 05.02.2023 kamen im ungesicherten Skiraum in Österreich acht Personen aufgrund von Lawinenabgängen ums Leben (Mittel 10 Jahre für die gesamte Saison: 19 Lawinentote). Zum aktuellen Zeitpunkt wurden in der Datenbank des ÖKAS/BMI von der Alpinpolizei 36 Personen eingetragen, die unmittelbar an Unfallereignissen beteiligt waren. Die Anzahl der Ereignismeldungen bei den Leitstellen und bei den Lawinenwarndiensten (v. a. Salzburg, Tirol und Vorarlberg) war in den vergangenen Tagen erhöht.
Fünf der tödlich verunglückten Lawinenopfer waren im Variantenbereich, zwei auf Skitour und einer bei Schneeräumungsarbeiten unterwegs. Es waren alle Altersgruppen zwischen 17 und 62 Jahre betroffen, wobei alle Opfer männlich waren, fünf aus Österreich, eines aus Neuseeland, eines aus China und eines aus Deutschland stammte.
Sechs der Unfälle mit tödlichem Ausgang ereigneten sich in Tirol, einer in Vorarlberg. Zwei der sieben Unfälle ereigneten sich bei Lawinenwarnstufe erheblich (3), fünf bei Lawinenwarnstufe groß (4). Im 10-jährigen Mittel finden 7 % der Unfälle bei Lawinenwarnstufe groß (4), 54 % bei Lawinenwarnstufe erheblich (3) und 22 % bei Lawinenwarnstufe mäßig (2) statt.
Die Situation in Tirol
Die Grafik der Landeswarnzentrale Tirol zeigt die räumliche Verteilung der Lawinenereignisse auf. Lediglich der Nordalpenraum war von Geschehnissen weniger betroffen.
Aktuell herrscht in Tirol oberhalb etwa 1.800 m weiterhin erhebliche Lawinengefahr. „Wir befinden uns dabei noch im oberen Bereich dieser Gefahrenstufe, haben es also unverändert mit einer für Wintersportler heiklen Lawinensituation zu tun“, so Patrick Nairz vom Lawinenwarndienst Tirol. Dies bestätigen Stabilitätsuntersuchungen, aber auch Alarmzeichen, wie gehäuft auftretende Wummgeräusche oder Rissbildungen, vereinzelt sogar noch spontane Lawinenabgänge, die die Mitarbeiter:innen des Lawinenwarndienstes Tirol beobachten bzw. in der Geländearbeit wahrnehmen konnten.
Die Situation in Vorarlberg
Andreas Pecl, Leiter des Lawinenwarndienstes Vorarlberg, blickt auf die Ereignisse der letzten Tage zurück und erklärt: „Es sind zahlreiche Lawinenereignisse aufgrund der vorhergesagten Situation festzuhalten. Entscheidend war in unseren Regionen die Verbindung des Neu- und Triebschnees mit der Altschneeoberfläche. Diese war schlecht und daraus ergaben sich die Unfälle.“
Die Ursachen für Auslösungen waren dieselben wie in Tirol. Es wurde zudem eindringlich vor Lawinen gewarnt. Die Lawinenwarndienste arbeiten und entwickeln ihre Berichte in enger Abstimmung miteinander. Somit sind die Lawinenprognosen auch in Gebieten außerhalb der Heimatregion der Wintersportler:innen gut verständlich aufbereitet. Man müsse das Möglichste tun, die Wintersportler:innen zu erreichen, so Pecl.
Die Situation in weiteren Bundesländern
Ähnliches in Bezug auf den Schneedeckenaufbau gilt für Grenzgebiete zu Osttirol im westlichen Kärnten, der Schober- und Glockner- sowie Teile der Goldberggruppe erklärt Matthias Walcher vom Lawinenwarndienst Salzburg. Weiter östlich und nördlich davon hat sich die Lawinensituation seit den Niederschlägen deutlich gebessert. Der viele Neu- und Triebschnee hat sich gesetzt und verfestigt, tiefer liegende Schwachschichten sind durch einzelne Skifahrer:innen kaum mehr anzusprechen. Es herrscht in diesen Gebieten aktuell Lawinengefahrenstufe mäßig (2).
Stellungnahmen
Alpinpolizei
Viktor Horvath, Leiter der Alpinpolizei in Tirol, erklärt, dass das vergangene Wochenende auch die Alpinpolizei vor große Herausforderungen stellte. Die Dichte der Lawinenereignisse mit und ohne Personenbeteiligung, aber auch die atypischen Lawinenereignisse und der Grad der Gefährdung der Retter:innen war derartig hoch, dass die Bewältigung nur unter sehr guter Kooperation aller beteiligten Einsatzorganisationen möglich war. Das beginnt mit der Bergrettung, Pistenrettung, Flugpolizei, Alpinpolizei, allen Rettungsdiensten (staatlich wie privat) und geht hin bis zu den Unfallkliniken, die ebenfalls sehr gefordert waren. Die Leitstelle Tirol sowie die Landesleitzentralen der Polizei bearbeiteten zahlreiche Unfallereignisse.
Aus Sicht der Alpinpolizei wurde umfangreich und ausreichend gewarnt und auf die bevorstehenden Gefahrensituationen hingewiesen. Wenn für ein Wochenende Lawinenwarnstufe auf der 5-teiligen Skala ausgegeben wird, gilt das nicht nur für den freien Skiraum (= das alpine Gelände), sondern auch für den Variantenbereich (= freier Skiraum, der innerhalb kurzer Zeit von Liftanlagen aus erreichbar ist). „Es lässt sich immer wieder feststellen, dass trotz hoher Lawinengefahrenstufen die Varianten „niedergepflügt“ werden. Hier ist zukünftig äußerste Vorsicht und Zurückhaltung gefordert!“, warnt Viktor Horvath.
Die Warnungen der Lawinenwarndienste müssen ernst genommen werden. Diese werden jedoch häufig zu oberflächlich behandelt oder nicht wahrgenommen, was zu verheerenden Konsequenzen führt.
Bei allen negativen Auswirkungen des vergangenen Wochenendes ist auch eine positive Entwicklung zu verzeichnen. Die Alpinpolizei bekam auch sehr viele Rückmeldungen zu Negativ-Lawinen, wodurch mit geringem zeitlichen und personellen Aufwand Lawinenabgänge abgeklärt werden konnten. Man konnte so die Mitarbeiter:innen dort einsetzen, wo es dringend erforderlich war.
Österreichischer Bergrettungsdienst (ÖBRD)
„Das vergangene Wochenende stellte vielfache große Herausforderung an die freiwilligen Einsatzkräfte mehrerer Landesorganisationen des Österreichischen Bergrettungsdienstes dar. So galt es, die hohe Anzahl der Einsätze zu bewerkstelligen, dem starken Zeitdruck gerecht zu werden und einhergehend ein Risikomanagement durchzuführen, um die eigenen Mannschaften nicht über das vertretbare Maß hinaus zu gefährden. Wir beurteilen die Verschuldensfrage nicht, das ist die Aufgabe anderer Organisationen. Dennoch stellen wir uns die Frage, wie es zu der Häufigkeit der Unfälle mit Verletzungen oder tödlichem Ausgang – trotz intensiver medialer Warnungen – kommen konnte. Ein richtiges Erfassen der Situation durch die Inhalte des Lawinenlageberichtes, das Verstehen der Bedeutung der Lawinengefahrenskala und der Auslösewahrscheinlichkeiten, die Kompetenz der Anwendung dieser Informationen im Gelände und die Fähigkeit, auch mit Notfallausrüstungen umgehen zu können, würde eine Vielzahl an Unfällen vermeiden“, resümiert ÖBRD-Präsident Stefan Hochstaffl.
Lawinenzeiten
Den Ausdruck „Lawinenzeiten“ prägte ursprünglich der langjährige Ausbildungsleiter der Österreichischen Berg- & Skiführer, Klaus Hoi. Peter Höller vom Bundesforschungszentrum für Wald, Abteilung Naturgefahren, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Lawinenereignissen in ganz Österreich, insbesondere auch mit besonders kritischen Perioden, und stützt sich bei der Darstellung von Lawinenzeiten auf seine Aufzeichnungen und die Daten der Unfalldatenbank des ÖKAS/BMI:
bb. 5: Lawinenzeiten 2020/21 und 2021/22
Gut ersichtlich werden in dieser Darstellung jene Zeiträume in einer Saison, die sich durch eine Häufung der Lawinenereignisse mit Verletzungs- und Todesfolge für Wintersportler:innen zu weniger kritischen Zeiträumen unterscheiden lassen. Es sind dies oft nur kurze Perioden, in denen es besonders erforderlich ist, Informationen zur Lawinenlage einzuholen und sich im Gelände defensiv zu verhalten. „Nicht selten ereignen sich in nur wenigen Tagen 20 bis 25 % aller Unfälle eines Winters“, so Höller. Betrachtet man das Verhältnis nur in den letzten beiden Jahren, sind es wesentlich mehr (bis zu über 40 %).
Zusammenfassung – Tipps ÖKAS & Partner
Das ÖKAS und seine Partner sind tagtäglich damit konfrontiert, wie schwierig es ist, Wintersportler:innen eindringlich vor besonders hoher Lawinengefahr zu warnen. Im Bereich der Lawinenwarndienste werden bereits viele niederschwellige Möglichkeiten genützt, Informationen nach außen zu tragen. Es ist zu hoffen, dass durch vermehrt unterstützende Informations- und Öffentlichkeitsarbeit Dritter in diesem Bereich ein Fortschritt erzielt werden kann. Das ÖKAS baut insbesondere auf Bewusstseinsbildung und erklärt Eigenverantwortung als Grundvoraussetzung für alpine Sicherheit im Winter. Für alle Wintersportler:innen gilt es, sich ausführlich zu informieren und bei Lawinenzeiten freies Gelände zu meiden.
Lawinenzeiten wird es immer wieder geben. Es ist entscheidend, sie frühzeitig zu erkennen und alpine Ziele sowie auch die eigene Verhaltensweise anzupassen. Besonders bei hoher Lawinenwarnstufe (ab erheblich, 3) können einzelne Wintersportler:innen einen Bruch in der Schneedecke leicht initiieren.
Standardmaßnahmen bei Wintersport im freien Gelände sind essenziell. Entlastungs- oder Sicherheitsabstände können zum Beispiel bei geringem Aufwand erheblich weniger Risiko bewirken. Besonders in die Vorbereitung und Planung von Touren und Abfahrten soll investiert werden – diese Phase nämlich hält einem die Gefahren vor Augen und lässt die richtigen Entscheidungen im Vorfeld zu. Wenig erfahrenen Personen kann eine Ausbildung durch Bergprofis oder alpine Vereine empfohlen werden, Erfahrenen dagegen Vorsicht und Zurückhaltung.
Dass die Situation weiterhin kritisch ist, zeigen weitere Lawinenereignisse aktuell, auch jenes mit tödlichem Ausgang am 06.02.2023 in Tirol.
„Das Wissen über die Lawinengefahr ist vorhanden, es erreicht die Risikogruppen aber nur unzureichend.“
— Peter Paal
Resümee Peter Paal, Präsident des ÖKAS
Expert:innen warnen eindringlich auf ausgewählten Kanälen, z.B. Lawinenwarndienst-Seiten, vor den Lawinenzeiten. Viele Wintersportler:innen halten sich durch entsprechende Tourenplanung oder den Verzicht auf Touren im alpinen Bereich auch an diese Empfehlungen. Leider erreichen die Warnungen die Risikogruppen allerdings bisher nur in unzureichendem Ausmaß. Insbesondere Jugendliche und andere Unerfahrene, die nur für wenige Tage im Winter im alpinen Gelände unterwegs sind, gilt es, noch besser mit Informationen über die Risiken und Gefahren zu versorgen. Vorstellbar sind Hinweise über hohe Lawinengefahr bei den Aufstiegsanlagen im Tal und bei besonders gefährdeten Hängen mittels Videos. Im Radio wird seit Jahren auf Unwetter hingewiesen. Wir sollten darüber nachdenken, in regionalen Radio- und TV-Sendern auch die Lawinengefahr mehr zu thematisieren, ganz besonders jedoch in den Skigebieten. Es muss ein Bewusstsein über alpine Gefahren in den betroffenen Talschaften unter Einheimischen UND Gästen entstehen.
Weiterführende Links:
Beitrag „Örtliche und zeitliche Verteilung von touristischen Lawinenunfällen in Österreich sowie deren Bezug zu den Lawinenproblemen“ aus dem Tagungsband zum 4. Lawinensymposium in Graz 2021
Artikel Powderguide – Unterschiedliche Nutzergruppen, unterschiedliche Lawinen
Artikel „The cumulation of avalanche accidents in certain periods“, ISSW
Web: alpinesicherheit.at