Am 13. Mai 2023 ist einem internationalen Expeditions-Team mit Mathieu Maynadier (Frankreich), Simon Gietl (Italien) und Roger Schäli (Schweiz) die Erstbegehung der Südostwand des 6660 Meter hohen Meru Peak im indischen Garhwal-Himalaya gelungen. Das Team wurde begleitet vom Fotografen Daniel Hug. Die 800 Meter lange Route »Goldfish« haben die Erstbesteiger im alpinen Stil geklettert und mit der Schwierigkeit M6+ A1 bewertet. »Die besondere Schwierigkeit der Route besteht in der Kombination aus den klettertechnischen Schwierigkeiten, der anspruchsvollen Absicherung, der grossen Höhe und den zahlreichen alpinen Gefahren wie beispielsweise Lawinen oder Wechtenabbrüchen,« gibt Roger Schäli zu Protokoll. Bereits der Zustieg zum Wandfuss durch anspruchsvolles und lawinengefährdetes Spaltengelände entspricht dem Aufstieg zum höchsten Berg der Alpen, dem 4807 Meter hohen Mont Blanc. Die Erstbesteigung gelang im zweiten Anlauf, nachdem Maynadier und Schäli im Herbst 2019 mit dem damaligen Seilpartner Sean Villanueva (Belgien) wetterbedingt im oberen Wanddrittel kapitulieren mussten.
Auch in diesem Jahr schien die Expedition unter einem schlechten Stern zu stehen. Doch trotz anhaltend widriger Wetterbedingungen behielten die drei Alpinisten ihr Ziel stets im Blick. Die zahlreichen Neuschneefälle in grosser Höhe hatten allerdings auch einen Vorteil: Das Team konnte den Zustieg mit Tourenski absolvieren und sparte sich so viel Energie. Der Zustieg von Camp 1 auf das Camp 2 war jedoch mit zunehmender Dauer lawinengefährdet. Der stark abgeschmolzene Gletscher erschwerte den Zustieg auf den Pass, welcher direkt unter dem Camp 2 liegt. Die Wegfindung durch das Spalten-Labyrinth gestaltete sich anspruchsvoll.
Am 11. Mai nutzte die Dreierseilschaft ein lang ersehntes Wetterfenster und startete vom Basecamp Tapovan (4300 m) direkt zum Lager C2 (5800 m). Mathieu Maynadier hatte mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, sodass der Aufstieg für ihn ausserordentlich kräftezehrend war. Am 12. Mai stiessen Simon Gietl und Roger Schäli mit der Kletterausrüstung bis an das erste Felsband vor, deponierten die Seile und legten eine Aufstiegsspur durch das steile Schneefeld. Maynadier nutzte den Tag, um sich zu erholen.
Tagsdarauf startete das Team um 03:00 Uhr morgens in die Wand. Um 23:00 Uhr bot eine exponierte Wechte in 6500 Metern Höhe die Möglichkeit, ein Biwak einzurichten. Nach einer kurzen und wenig komfortablen Nacht zu dritt im Zweimannzelt konnte der Gipfel in Angriff genommen werden. »Der Aufstieg war sehr intensiv und zeitwändig«, erzählt Roger Schäli. »Zeitweise mussten wir den Fels von bis zu einem halben Meter Neuschnee reinigen, bevor wir eine Zwischensicherung legen konnten. Und da war kein Eis, um gelegentlich auch mal eine Eisschraube zu setzen. Ständig drohten alpine Gefahren, u.a. durch Wechtenabbrüche. Zudem wussten wir, dass das Wetterfenster sehr kurz sein würde». Zunächst war sich die Seilschaft nicht sicher, ob sie über ihre Route unterhalb eines Felsblocks zu ihrem Ziel gelangen würde. Schliesslich, nach weiteren drei Seillängen und im eisigen Wind, führte ihr Weg auf die Gratwechte. Nach weiteren 200 Höhenmetern über eine steile Schnee-Eis-Flanke stand das Europäische Trio schliesslich auf dem Gipfel des Meru. Abgeseilt wurde über die gleiche Route, C2 und C1 abgebaut und die neue Route auf Indiens bekanntesten marinen Sechstausender gebührend gefeiert. Name und Eckpunkte der neuen Route: Goldfish, 800 m, M6+ A1. Die Namenwahl trafen die drei Erstbegeher mit einem Augenzwinkern. Goldfish - in Anlehnung an den 6310 Meter hohen Mittelgipfel, der 2001 von Waleri Babanow erstbestiegen wurde und seiner Form wegen unter dem Namen Shark’s Fin bekannt ist. »Bereits die Bergkante der Südostwand sticht ins Auge. Die Linie ist sehr schön und anspruchsvoll«, freut sich Simon Gietl über die gelungene Première.
Der 6660 Meter hohe Meru ist Teil der Gangotri-Gruppe im Garhwal-Himalaya. Der Berg liegt im indischen Bundesstaat Uttarakhand, zwischen den in Alpinkreisen ebenso bekannten Gipfeln Shivling im Osten und Thalay Sagar im Westen.