Im Winter 2018 bekam mein Kletterpartner und guter Freund Vittorio „Vitto“ Messini über die Eiskletterschule der Iceguides eine Anfrage zu einem Eiskletterkurs für zwei Personen. Auf den ersten Blick nichts Besonderes, bis ihn wenig später der Sextener Bergführerkollege Daniel Rogger mehr über einen der beiden Gäste erzählte: Gabriel, 34 Jahre jung, wäre nämlich zu 90% blind.
Gabriel machte beim Klettern im Eispark gleich gewaltige Fortschritte. Er ist unglaublich stark, ehrgeizig und sehr motiviert. Nach dem Eiskurs und mehreren Besuchen im Eispark Osttirol verabredeten sich Gabriel und Vitto für einen Hochtourenkurs an der Stüdlhütte im darauffolgenden Sommer. Dort entstand die Idee für das Vorhaben - Cerro Torre. Als Abschluss der drei Hochtourentage „rannten“ sie förmlich über den Nordwestgrat auf den Großglockner. Beim Abschlussbier in der Stüdlhütte kam Vitto die Idee, dass für Gabriel aufgrund seiner Kondition, Stärke im Eisklettern und seiner Motivation die „Ferrari“ oder „Ragni“ Route an der Cerro Torre Westwand ein ideales Ziel wären.
Vitto erzählte mir von seiner Idee. Nach einigen Überlegungen kamen wir zum Schluss, dass die Seilschaft zu dritt mehr Reserven für so ein ambitioniertes Vorhaben hat. Es folgten nun zu dritt einige Vorbereitungstouren, wie Prijakt Nordrinne, der Südwandwächter am Glockner, Eisfälle wie der Kesselfall und Mordor. Den ursprünglichen Plan, noch 2020 nach Patagonien aufzubrechen, mussten wir coronabedingt verschieben. Im Nachhinein ein Glück, denn so konnten wir uns weiter mit immer anspruchsvolleren Touren vorbereiten. Gabriel konnte sich beispielsweise den Traum erfüllen, die Große Zinne Nordwand in der Route „Comici-Dimai“ mit Daniel Rogger und Vitto zu klettern. 17 Seillängen bis zum 7. Grad auf einer der steilsten Dolomitenwände. Im September 2021 war es aber dann schließlich soweit, und wir bereiteten die große Reise vor.
Vitto flog Mitte November gemeinsam mit seiner Frau und den 2 Kindern nach Argentinien. Gabriel und ich folgten eine Woche später. Mit von der Partie war auch unser gemeinsamer Freund und Bergführerkollege Christian „Kruscht“ Riepler, der unser Vorhaben mit der Kamera dokumentierte. Das Wetter in Patagonien ist oft sehr wechselhaft, und die Winde sind stürmisch – so gestaltete sich auch die erste Zeit in El Chalten. Als ein erstes Wetterfenster in Sicht war, entschieden wir uns, zum Aguja Poincenot - Nachbargipfel des Fitz Roy - zu starten.
Anfänglich war das Wetter gar nicht gut. Doch die lange Wanderung bis zum Lago de los Tres lässt sich auch bei Schlechtwetter gut machen. Nebenbei bekamen wir alle schon einen guten Einblick, was uns in nächster Zeit erwarten wird. So lange über steinige Zustiege sind wir in dieser Konstellation noch nie gegangen. Auch der schwere Rucksack machte es für Gabriel nicht einfach. Derjenige von uns, der vor Gabriel geht, ist mit Ansagen beschäftigt: „rechts, links, Stufe, Achtung großer Schritt, links, rechts, kleine Brücke,...“.
Wenn es schwieriger wird, ist ein Stock als Verbindung eine gute Hilfe. Wenn es noch steiler wird, muss der Rucksack vom Vordermann herhalten. Auch wenn das für uns kräftezehrend und anspruchsvoll ist - was Gabriel leistet und und körperlich ausgleichen muss, ist enorm. Passiert man den Lago de los Tres über eine Kletterpassage, erreicht man den Gletscher, der auf das sog. „Paso Superior“ führt. Dort ist der Ausgangspunkt für viele Kletterrouten an der Fitz Roy Kette. Nun hofften wir auf eine Spur am Gletscher von anderen Kletterern. Leider vergebens. Wie mussten selbst sehr tief spuren, da der Schnee von der Strahlung und vom Regen aufgeweicht war.
Am Abend, nach ca. 12 Stunden Gehzeit, erreichten wir unseren Zeltplatz. Die Nacht war klar und sehr kalt. Am nächsten Morgen hatte es -14°, und der Wind fegte heftig. Am ersten noch relativ flachen Weg auf dem Gletscher zum Einstieg der „Whillians - Cochrane“ Route mussten wir sehr tief im frischen Windschnee hinaufspuren. Auf einem flachen Sattel verabschiedeten wir uns von Kruscht, der von dort aus weiter filmen und fotografieren wollte. Doch schon nach einer halben Stunde war auch für uns Schluss. Der Schnee war hüfttief. Eine Graupelschicht in der Schneedecke und die immer stärker werdende Sonne waren für uns Alarmzeichen genug, um den bis zu 50° steilen Hang, der ohne Auslauf in eine Felswand abbricht, nicht zu queren.
Als wir wieder zurück bei den Zelten waren, machten wir einen Wettercheck über das InReach (GPS Messenger) mit Vittos Frau Christina, die mit den Kindern in El Chalten wartete. Das Wetter sollte schön bleiben bis zum Abend, aber der Wind bis zum Nachmittag stark zunehmen. Daher entschieden wir uns für den Abstieg zurück nach El Chalten. Unser Klettermaterial ließen wir im Biwak am Paso Superior zurück für einen weiteren Versuch bei der nächsten Möglichkeit. Wir freuten uns nach dem langen Rückweg über ein Steak und Bier in Chalten.
Nach einer Woche kündigte sich ein ein 3-4 tägiges Wetterfenster an, und wir machten uns startklar. Es wehte sehr starker Wind, der aber nach oben hin immer mehr an Intensität verlor. Unsere Spuren am Gletscher waren fast verschwunden. Wir mussten alles wieder neu hinaufspuren, diesmal aber mit deutlich leichteren Rucksäcken. Das Zelt war schnell wieder aufgebaut, und wir machten uns fertig für den nächsten Tag.
Nach einer kurzen Nacht ließ schon der erste Schritt am Gletscher Gutes erahnen. Der Schnee hatte sich super gesetzt, und eine tragfähige Harschschicht hatte sich gebildet. Bald waren wir am letzten Umkehrpunkt, und die Sonne ging auf. Jedes Mal ein imposantes Spektakel in Patagonien!
Das erste Teilstück der Route ist eine 50°- 60° steile Rampe. Diese haben wir schnell hinter uns gebracht. Danach schlängelt sich die Route im Fels- und Mixedgelände korkenziehermäßig rund um diesen riesigen Granitklotz hinauf. Die Verhältnisse waren nicht optimal. Weil noch viel Schnee in der Route lag, und weil es auch sehr windig und kalt war, kletterten wir die gesamte Route mit Steigeisen, Pickel und dicken Handschuhen. Die vielen Quergänge ließen uns nur langsam voran kommen, da Gabriel viel Hilfe mit Ansagen der Tritte, Griffe und Hooks benötigte. Am Nachmittag erreichten wir den Gipfel. Gabriels erster Gipfel in Patagonien!
Für den Abstieg entschieden wir uns, über eine andere Route (Whisky in Time) abzuseilen, um relativ direkt, ohne große Quergangsmanöver, zum Einstieg zurück zu kommen. Wir mussten viele Abseilstände verbessern, was einiges an Zeit kostete. Kruscht, unser Fotograf und Filmer wartete am Gletscherplateau auf uns, wo er den ganzen Tag über mit Filmen und Foto machen verbracht hatte. Wir waren überglücklich, als wir uns wieder trafen und stiegen gemeinsam zum Paso Superior ab.
Am nächsten Tag war das Wetter noch schön, sodass Vitto und ich noch eine schnelle "Aktion" dranhängten. Wir stiegen über das Color „Coqueugniot-Guillot“ auf die Aguja Guillaumet. Ein etwas kleinerer aber doch ansehnlicher Gipfel am nördlichen Ausläufer der Fitz Roy Kette. Zu Mittag kamen wir wieder zurück zum Paso Superior zu Gabriel und Kruscht. Hier war klar, dass wir unser gesamtes Material wieder zurück nach El Chalten tragen werden. Dass, in der Zivilisation wieder angekommen, ein argentinisches Steak ansteht, ist wahrscheinlich überflüssig zu erwähnen…
Nach dieser erfolgreichen Besteigung des Aguja Poincenot vergingen einige Tage bei patagonischem Schlechtwetter. Auffallend war, dass generell sehr wenige Bergsteiger in El Chalten waren. Einzig der Schweizer Alpinist Roger Schäli und seine Freundin waren anzutreffen. Sehr wahrscheinlich coronabedingt, dass nicht mehr Bergsteiger hier waren.
Kurz vor unserer geplanten Abreise kam ein 4 Tages Wetterfenster. Für unser Vorhaben, Cerro Torre Westwand, definierten wir im Vorfeld zwei Standards, die eintreffen müssten. Erstens sollte ein 5 Tages Wetterfenster sein und zweitens sollte die Route von anderen Bergsteigern bereits begangen worden sein, damit wir beim Klettern schneller voran kämen. Dies waren unsere Gedanken, um mit unserem Team realistische Chancen auf einen Gipfelerfolg zu haben.
Da es die letzte Chance vor dem Abflug war, entschieden wir uns für einen Versuch. Denn in Patagonien kann sich vieles schnell ändern.
Um zur Cerro Torre Westwand zu gelangen, muss man einen weiten Marsch über den Paso Marconi auf sich nehmen. „Weit“ heißt: ca. 45 km oneway. Zuerst über einen Wanderweg, dann über Geröllgelände und schließlich über den gewaltigen Gletscher des „Hielo Continental“ (Inlandseis). Schwer beladen starteten wir also Richtung Paso Marconi, der unser Tagesziel sein sollte. Vorbei an einer kleinen bewirtschafteten Hütte „Piedra del Fraile“, ging es über einen guten Wanderweg zum Ostufer des Lago Electrico. Hier endete der Wanderweg, und es ging über grobes Geröll und Moränengelände weiter. Für Gabriel absolutes Killergelände. Vor allem, weil er auch einen schweren Rucksack tragen musste, kamen wir nur mehr sehr langsam voran. Die Verletzungsgefahr war für Gabriel sehr groß.
Wir erreichten am Tagesende nur das Westufer des Sees und waren noch ca. 5 weitere Stunden vom Paso Marconi, unserem Tagesziel, entfernt. Wir mussten uns eingestehen, dass wir so keine Chance hatten. Das 4 Tages Wetterfenster war zu kurz. Wir beratschlagten uns und wussten, dass uns mindestens ein Schönwettertag fehlte. Deshalb entschieden wir, am nächsten Tag wieder zurück nach El Chalten zu gehen. Alles andere wäre gefährlich gewesen in Anbetracht dessen, dass am 5. Tag der Rückweg bei Regen und Nässe zu bewältigen gewesen wäre. Der Gedanke daran, über nasses Geröll- und Moränengelände in unserer Konstellation zu laufen, machte uns Angst. Für ein Alternativziel in dieser Gegend war dann auch keiner mehr motiviert. Unser geplanter Rückflug stand unmittelbar bevor. Aber es waren ja immer noch 2 schöne Tage bis dahin gemeldet.
Gabriel hatte nach diesem missglückten Versuch am Zustieg zum Cerro Torre etwas an Motivation verloren, war aber glücklich, zumindest den Poincenot gemacht zu haben. In Absprache mit ihm, entschieden Vitto und ich, in den letzten zwei verbleibenden Schönwettertagen eine schnelle Aktion durchzuführen. Unser Ziel war der Aguja Standhardt im Torre Tal.
Die letzen zwei Tage hingen uns in den Schultern und Beinen noch etwas nach, doch schönes Wetter kann man nicht im Tal aussitzen, in Patagonien erst recht nicht. Am Lago Torre angelangt, wunderten wir uns über den deutlich verschlechterten Zustand der zu querenden Moräne. Die Querung schien viel steiler und gefährlicher zu sein als in den Jahren zuvor. Wir wussten, dass in zwei Tagen das Wetter schlecht wird, und somit müssten wir dieses Teilstück bei Regen wieder retour gehen. Das Risiko wegen Steinschlag wäre zu groß, und wir schauten uns um ein Alternativziel um.
Am südlichen Ende der Adelagruppe ragt ein Berg in die Höhe, eine alleinstehende Schneepyramide. Dieser Gipfel stach uns ins Auge. Aber wir wussten nicht, wie der heißt. Der Vorteil bei dem Berg war, dass der Rückweg nicht über die gefährliche Seitenmoräne verlief. Da wir keine Informationen über diesen Berg hatten, schauten wir uns von unten eine mögliche Aufstiegsvariante an und suchten einen passenden Platz zum Biwakieren. Der Aufstieg war schwieriger als erwartet. Ein sehr scharfer Schnee- und Eisgrat führte zum Gipfel. Insgesamt ein Berg mit westalpinem Charakter. Mit müden Beinen standen wir auf einem, für uns neuen patagonischen Gipfel. In El Chalten wieder angekommen, fanden wir heraus, dass es sich um den Cerro Grande gehandelt hat.
Unser Rückflug stand an. Gleichzeitig war zu erkennen, dass das Wetter richtig gut werden würde. Ein 6 Tagesfenster war angekündigt. Dies veranlasste uns, sofort beim Reisebüro anzurufen. Somit begann ein kleiner Krimi. Anfänglich stand es schlecht um unseren Wunsch einer Umbuchung. Doch unser Reisebüro Alpenland hängte sich voll rein und konnte alle Flüge umbuchen. Die endgültige Bestätigung der Umbuchung bekamen wir wirklich erst am geplanten ursprünglichen Abreisetag, der zugleich unser Starttag für den 2. Versuch - Cerro Torre war.
Am 14. Dezember 2021 um 6:30 Uhr bekamen wir das finale OK vom Reisebüro, und um 7:00 Uhr starteten wir unser Abenteuer in Richtung Cerro Torre. Mit den Erfahrungen aus den letzten Wochen, die wir gesammelt hatten, änderten wir unsere Taktik. Wir arrangierten für den ersten Tag einen jungen argentinischen Bergsteiger als Träger für Gabriels gesamtes Material. Jetzt kam Gabriel wirklich viel schneller voran, und der Zustiegstag zum Passo Marconi verlief viel besser als beim ersten Versuch. Wir waren voll im Zeitplan. Am späten Nachmittag erreichten wir unser geplantes Tagesziel. Hier verließ uns wieder unser Träger, denn das stark verblockte Gelände hatten wir hinter uns gebracht.
Die Nacht verlief klar, aber es wurde nicht allzu kalt. Zudem hatte es in den vergangenen Tagen bis in höhere Lagen hinauf geregnet. Deswegen bildete sich kein tragfähiger Harschdeckel an Gletscher. Immer wieder brachen wir ein. Der lange Marsch zum „Circo de los Altares“, dem Gletscheramphitheater am Fuße der Cerro Torre Westwand, wurde zusehends zur Qual. Am „Circo de los Altares“ angekommen, stellte sich die Frage, ob es noch Sinn macht, über den steilen Hang Richtung Col de Esperanza hinaufzugehen. Denn die Strahlung der Sonne war ziemlich stark.
2010 konnte ich mit Charly Fritzer die Kompressorroute an der Süd-Ostkante des Cerro Torre klettern, und 2013 kletterte Vitto gemeinsam mit Isidor Poppeller die Westwand des Cerro Torre. Aus diesen Erfahrungen heraus wussten wir, dass wir an diesem Tag noch so hoch wie möglich hinauf mussten, um eine realistische Chance für einen Gipfelerfolg zu haben. Somit ging es weiter, hinein in den steilen Schneehang. Nach einer spannenden Querung erreichten wir den rettenden Felssporn, von dem
aus wir in weiteren 4 Seillängen kurz unter das Col de Esperanza gelangten. Dort oben, am Fuße der Cerro Torre Westwand, fanden wir einen super Zeltplatz. Wir verbrachten hier unsere 2. Nacht. Seit 1 1/2 Jahren war wegen Corona keiner mehr hier, und die Abgeschiedenheit und Ausgesetztheit dieses Platzes war voll zu spüren.
Wir machten wie gewohnt am Abend noch einen Wettercheck. Wir bekamen 2 Updates. Eines von Vittos Frau Christina und eines von Rolando Garibotti. Somit hatten wir gute Wetterinformationen. Um 4:00 Uhr in der Früh ging es los. Von nun an kletterten wir zu dritt weiter, um schneller voran zu kommen. Kruscht blieb bei den Zelten und verfolgte uns von dort aus. Das erste Stück war relativ leicht (60°-70° steile Eisflanken) und ließ sich gut im Dunkel klettern. In diesem Gelände ist Gabriel richtig stark, und wir kamen schnell voran. Als wir die erste schwierige Seillänge am „Elmo“ erreichten, wurde es hell. Das Wetter war schlechter als erwartet. Stürmischer Wind und Nebel machten die Kletterei nicht allzu leicht, und das „Hinaufgraben“ war sehr anstrengend. Vor allem, weil uns der Wind den losen Schnee in die Augen blies.
Nach einem etwas leichteren Grat erreichten wir das Mixedgelände. Nicht allzu schwierig, aber fordernd ging es die Fels- und Eispassagen bis zur sogenannten „Headwall“ hinauf. Eine senkrechte, strukturlose Gletschereis Länge. Obwohl diese Länge anstrengend war, ließ sie sich gut absichern, und wir kamen gut voran. Vitto und ich übernahmen abwechselnd den Vorstieg. Der zweite kletterte vor Gabriel, baute für ihn die Sicherungen ab und gab Anweisungen, wo es nötig war. Nach der Headwalllänge kamen 2 lange Seillängen, die in steiler Kletterei auf den Gipfelgrat führten. Das Wetter besserte sich langsam. Der Himmel wurde blau. Zwar blies der Wind noch sehr stark, und wir hatten mit den Eiskristallen, die uns "sandstrahlten", zu kämpfen.
Insgesamt war der Eisteil steiler, als es Vitto noch von seiner Tour 2013 in Erinnerung hatte. Jetzt konnten wir noch nie gesehene Naturgebilde bewundern und nutzen einen der 3 senkrechten, ca. 1,5 m breiten Tunnels in Schnee und Eis, die nun zur letzten Seillänge hinaufführten. Nun schaute die Sache ernst aus. Es war eine senkrechte Seillänge aus Schnee und Eis, die zudem noch mit weichem „Anraumschnee“ voll gekleistert war. Einzig links führte ein schmaler Tunnel hinauf, der aber im unteren Drittel endete. Am Ende dieses Tunnels bestand nur die Möglichkeit, nach rechts zu queren, um in ein anderes Tunnelsystem weiter oben rechts zu gelangen.
Den Anfang machte Vitto. Er arbeitete sich im Tunnel hinauf. Am Ende angelangt, fing er an, einen Quertunnel nach rechts zu graben, um ins rechte Tunnelsystem zu kommen. Da waren ihm die Sicherungen zu schlecht. Nach fast einer Stunde vollem Einsatz bat er mich um einen Wechsel. Nach einem Schnee-Techno-Krimi und weiteren 2 Stunden später, gelang es mir, diese schwer abzusichernde Passage zu klettern. Als ich die erste Eisschraube ins gute Eis hinein drehte und im oberen Teil des rechten Tunnelsystems gut nach oben vorankam, wurde mir klar, dass wir es schaffen werden.
Wenig später standen wir um 16:30 Uhr am Gipfel des Cerro Torre. Es war windstill. Wir konnten kaum glauben, es geschafft zu haben. Nach so vielen Fragezeichen, Anstrengungen und Mühen waren wir überglücklich, oben zu stehen. Wir saßen eine Weile, genossen die so seltene Aussicht und schauten über die Weiten, die wir hinter uns gebracht hatten.
Der Rückweg gestaltete sich noch einmal spannend. Wir seilten über die gleiche Route ca. 20 mal ab. Das Wetter war nun richtig gut. Fast zu gut, denn die Sonne bearbeitete das Eis, und es war ziemlich Bewegung in der Wand. Immer wieder flog Eis von oben herunter. Bei den ersten "Abseilern" war es schwer, gutes Eis für Abseilstände zu finden. Ab der Headwall ging das Abseilen deutlich schneller, da die Stände meist im Fels schon vorhanden waren. Im Mixedgelände versuchten wir so schnell wie möglich runterzukommen, da wir dort dem Eisschlag extrem ausgesetzt waren. Als die Dunkelheit hereinbrach, machten wir die letzte Abseillänge, und Kruscht kam uns die letzten Meter entgegen. Da er uns untertags nur selten ausfindig machen konnte und wir auch keine Funkgeräte bei uns hatten, sorgte er sich sehr um unser Wohl.
Unser Kamerad schmolz nun Schnee mit vollem Elan und kümmerte sich sehr gut um uns. Eine Wohltat nach so einem Tag! Am nächsten Morgen mussten wir uns für den weiteren Abstieg zum Circo de los
Altares noch einmal voll konzentrieren. Die Temperaturen waren sehr hoch und der Schnee dadurch sehr weich. Als wir unten ankamen, stand uns noch der mühevolle 1 1/2 Tage lange Gletschermarsch bevor. Eine letzte Schlüsselstelle hatten wir noch vor uns: Der Abstieg vom Paso Marconi. Wir mussten noch die gefährliche Seraczone queren. Gottseidank ging alles gut, und wir balancierten noch über das lästige Moränengelände hinaus bis zum Wanderweg, der zum Refugio „Piedra del Fraile“ führt.
Von dort wanderten wir noch 2 Stunden, mit einem breiten Grinsen auf unseren Gesichtern, hinaus bis zur Straße, die nach El Chalten führt. Dort angelangt, empfingen uns Vittos Familie und unsere Vermieter. Am Abend spielte noch die einheimische Band „Siete Venas from del Monte“. Und so konnten wir unsere gelungene Tour ausgiebig feiern. Ein überaus passender Abschluss und schöner Abschied von Patagonien!
Es bleibt uns nur mehr, den Hut vor Gabriel zu ziehen, der immer voll motiviert bei der Sache war und keine Sekunde an uns gezweifelt hat. Der alles gegeben und wirklich alles bekommen hat. Mit Recht können wir von uns behaupten, ein super starkes Team zu sein. Ein großes Danke geht an Kruscht fürs Begleiten, Fotografieren, Filmen und seinen Sherpa-Dienst. Er war wirklich eine überaus wertvolle Hilfe und ein wichtiges Backup für unsere Unternehmung.
Vittos Familie war auch ein Teil der Geschichte. Seine Frau Christina hat uns immer mit wichtigen Wetterinfos versorgt, und die Kinder haben uns oft sehr schöne, lustige aber auch manchmal anstrengende Stunden bereitet.
Zuallerletzt gehen unsere Gedanken an die Bergsteiger Robert Grassegger und Corrado Pesce, die in letzten paar Wochen ihr Leben in den Bergen Patagoniens lassen mussten. Ihre tragischen Unfälle und das damit verbundene Leid in den Familien soll unser - in gewisser Weise - egoistisches Handeln am Berg vergegenwärtigen und uns für die Zukunft bescheidener und noch rücksichtsvoller machen.
Kals, am 22.02.2022 - von Matthias Wurzer & Vittorio Messini
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